„Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“[1] – so formulierte Thomas Hobbes seine Sicht des Menschen. Dieses alte Plautus Zitat ist eine fragwürdige Aussage über unsere eigene Art, die sich noch dazu auf falsche Annahmen über eine andere Art stützt. Nach Hobbes Vorstellung sei der Mensch im Urzustand eine wilde Bestie, egoistisch, machthungrig und prinzipiell amoralisch. Nur durch das Schließen eines Gesellschaftsvertrags könnten seine grausamen Urinstinkte gebändigt werden, und er könne in einer sozialen und moralischen Gesellschaft leben.
Jean – Jacques Rousseau war auf der Suche nach dem „edlen Wilden“, denn er war der festen Überzeugung, erst die Kultur hätte den Menschen zu dem grausamen Wesen gemacht, als das er sich darstellt. Er sieht im Mitleid ein sozio – kulturelles Phänomen, das sich in von der Moderne „unverdorbenen“ Gesellschaften manifestiert und auf dessen Wert eine Rückbesinnung lohnenswert wäre. Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; […] Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.[2]
Wilhelm von Humboldt meinte, Bildung, insbesondere die humanistische Bildung, würde uns zu besseren Menschen machen. Man verlangt (vom Menschengeschlecht), dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter ihm herrschen, dass es seinen inneren Wert so hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn von ihm, als dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen großen und würdigen Gehalt gewönne.[3]
Solche Überzeugungen ziehen sich durch die gesamte abendländische Kulturgeschichte. In seiner Kulturkritik vertritt Freud die Auffassung, dass Zivilisation […] aus der Leugnung des Instinkts […], aus der Beherrschung der Naturkräfte, aus dem Aufbau eines kulturellen Überichs[4] entsteht. Richard Dawkins meint in seinem Buch das egoistische Gen: wir allein – einzig und allein wir [Menschen] auf der Erde – können uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen.[5]
Es ist herrschende Lehrmeinung von Psychologen, Philosophen und Juristen, dass moralische Urteile vollkommen bewusste Entscheidungen sind. In diesem Bild vom menschlichen Geist wird einem wie immer gearteten Moralinstinkt ausdrücklich kein Platz eingeräumt. Sitte und Anstand würden samt und sonders durch Erziehung, Religion und die Gesellschaft geprägt. Allen diesen Thesen ist gemeinsam, dass sie uns Menschen mehr oder weniger unterstellen, dass wir im Grunde oder unserem Verhalten nach amoralische Wesen seien. Irgendwann in der Entwicklung der Menschheit hätte es einen gravierenden qualitativen Sprung zwischen Naturzustand und Kulturzustand gegeben.
Viele Ethiker postulieren, dass ethische Entscheidungen und ethisches Verhalten durch ein höheres, geistiges Prinzip hervorgerufen werden. Sie nennen dieses Prinzip Vernunft, Pflicht oder auch Gott, sein Einwirken auf die materielle Körperwelt ist nicht nur möglich, sondern absolut wünschenswert und notwendig. Auch der „freie Wille“ bedient sich der Annahme eines höheren geistigen Zustands, der von der Materie unterschieden werden soll.
Vor diesem Hintergrund stellen sich nun mehrere Fragen: Ist die Wurzel ethisch moralischen Handelns wirklich in der Vernunft zu suchen, wie es Kant postulierte, entstehen moralische Regeln wie die Zehn Gebote durch das Wirken bzw. die Offenbarung einer höheren Macht, oder haben Ethik und Moral einen tiefer im Menschen sitzenden älteren Ursprung? Gibt es gar eine Evolution der Moral, und was bedeutet es dann moralisch zu handeln? Glücklicherweise sind wir heute bei diesen Fragen nicht mehr auf reine Spekulationen angewiesen, sondern können auf Ergebnisse der Primatenforschung und der Hirnforschung zurückgreifen. Damit stehen unsere Überlegungen auf der Basis von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und können somit beanspruchen, Grundsätzliches und Verlässlichkeit zur Entstehung unserer Moral beizutragen und auszusagen.
Dagegen steht die Annahme, dass auch ethisch – moralische Handlungen von denselben Kräften, Motiven und Prinzipien determiniert sind wie alle anderen Handlungen und Entscheidungen auch. Diese Denkweise nennen wir materialistisch, weil sie annimmt, es gebe nur einen einzigen Stoff der Welt, in dem zunächst die aus Ethik und Moral gebildeten Begriffe von Gut und Böse […] keine sinnvolle Bedeutung haben. Materialismus ist nicht die Denkweise, dass alles Materie sei, sondern die Denkhaltung, dass alles aus demselben Stoff gebildet sei. Ob man diesen Stoff Materie, Kraft, Material der Arbeit [oder] Leben [oder eben Evolution] nennt […], ist dabei unwichtig. Die materialistische Erklärung des Zustandekommens von Ethik und Moral geht davon aus, dass auch diese Kategorien im Dienst eines zu gelingenden Lebens stehen.[6]
Ethik scheint evolutionär tief im Menschen verankert zu sein. Schon Charles Darwin meinte 1871 in seinem Buch, die Abstammung des Menschen, dass der Mensch keinen Bruch mit der Natur begehen müsse, um zu einem moralischen Wesen zu werden; er schreibt: Moralität [gehört] gleichermaßen unmissverständlich zu einem Teil des menschlichen Wesens.[7]
Der Zoologe und Primatenforscher Frans de Waal lehnt die dualistische Sicht von Natur und Kultur ab. Seine Forschungsergebnisse zeigen, dass sich der Mensch nicht vom amoralischen Tier zum moralischen Menschen entwickelt hat, sondern vom sozialen Tier zum moralischen Tier. Gibt es für die erste Position keine empirischen Beweise, so zeigen die Ergebnisse der Hirnforschung, dass bei moralischen Entscheidungen auch entwicklungsgeschichtlich sehr alte Hirnareale aktiviert werden. Es hat den Anschein, dass die Empathie zu einem Erbe gehört, das so alt wie die Abstammungslinie der Säugetiere ist. Die Empathie nutzt Hirnareale, die mehr als hundert Millionen Jahre alt sind.[8] Dieses Netzwerk der Moral wurde durch die Evolution in die Hirnanatomie des Menschen eingewoben. Ethik scheint also in erster Linie durch Biologie und weniger durch Philosophie erklärbar und durch Evolution begründbar zu sein, denn die Evolution begünstigt Tiere, die einander helfen, wenn der dadurch gezogene Nutzen langfristig größer ist als der kurzfristige Vorteil, wenn sie allein oder in Konkurrenz agieren.[9]
De Waal entwickelt ein Drei – Ebenen – Modell der Moralentstehung als Ergebnis seiner Forschungen mit Primaten und der Auseinandersetzung mit Vertretern der Moralphilosophie
- Moralische Gefühle
- Sozialer Druck
- Beurteilung und Überlegung.[10]
Moralische Gefühle sind die angeborenen Fähigkeiten zu Empathie, zu Reziprozität, Fairness und zu harmonischer Gestaltung von Beziehungen. Sozialer Druck erzeugt im Kollektiv Kooperation durch Belohnung und Strafe. Moralische Gefühle und sozialen Druck können wir bei Menschen wie Primaten gleicherweise beobachten. Diese Parallelen fehlen bei der Reflexion moralischer Normen (Beurteilung und Überlegung). Hier hat die menschliche Vernunft ihr ausschließliches Terrain. Nur der Mensch ist geistig dazu in der Lage, seine emotional verankerten Moralauffassungen reflektierend zu überprüfen und gegebenenfalls bewusst zu disziplinieren. Die Internalisierung der Bedürfnisse und Ziele von anderen in einem Maße, dass diese Bedürfnisse und Ziele in unserer Beurteilung von Verhalten auftauchen, darunter auch das Verhalten anderer, das uns nicht selbst betrifft, tritt nur beim Menschen in ausgeprägter Form auf. Die Ähnlichkeit des Verhaltens der Menschen zu dem der Primaten bewertet de Waal vorläufig: Das moralische Urteil ist selbstreflexiv (das heißt, es leitet unser Verhalten) und häufig logisch überlegt.[11]
Die Grundlage von Ethik und Moral ist in der Empathie zu suchen. Die Geschichte der Empathie ist gleichzeitig eine Geschichte der Evolution. Um moralisch handeln zu können, müssen wir uns in den anderen hineinversetzen können, müssen zumindest eine Ahnung davon haben, was für den anderen in einem konkreten Moment das Gute oder das Schlechte wäre. Die Beispiele, die de Waal und seine Mitarbeiter geben, weisen darauf hin, dass auch Tiere Empathie, Mitgefühl, besitzen, dass sie tatsächlich zu altruistischem Verhalten oder zu Grausamkeiten fähig sind. Die[se] Fähigkeit [Empathie] entstand vor langer Zeit mit motorischer Nachahmung und Gefühlsansteckung, woraufhin die Evolution Schicht um Schicht hinzufügte, bis unsere Vorfahren nicht nur fühlten, was andere fühlten, sondern auch verstanden, was sie möglicherweise wünschten oder brauchten. […] Es ist so, als hätte die Natur dem Organismus eine simple Verhaltensregel mit auf den Weg gegeben: >Spürst du, dass ein anderer leidet, geh hin und stelle Kontakt her.<[12]
De Waal unterscheidet zwischen einfacher und höher entwickelter Empathie. Bei der einfachen Empathie empfinden wir einfach nur mit, was ein anderer empfindet. Zur höher entwickelten Empathie kommt noch die Fähigkeit der Perspektivenübernahme hinzu: Diese Kombination aus emotionaler Erregung, die unsere Anteilnahme weckt, und dem kognitiven Ansatz, der uns eine Beurteilung der Lage ermöglicht, kennzeichnet die empathische Perspektivenübernahme. Diese beiden Seiten müssen sich die Waage halten.[13]
Als weiteren Schritt über die höher entwickelte Empathie hinaus nennt de Waal die Sympathie: Sympathie unterscheidet sich von Empathie dadurch, dass sie proaktiv ist. Als Empathie bezeichnen wir einen Prozess, mit dessen Hilfe wir Informationen über jemand anderen sammeln. Sympathie dagegen spiegelt Besorgnis um den anderen wider und den Wunsch, dessen Lage zu verbessern.[14] So beschreibt de Waal das Verhalten gegenüber Bettlern oder Obdachlosen. Wir fühlen durchaus mit ihnen mit und versetzen uns dabei in ihre Lage. Aber trotz dieser voll entwickelten Empathie, die wir an den Tag legen, müssen wir ihnen nicht unbedingt helfen. Wir können auch an ihnen vorbeigehen und sie ignorieren. Um zu helfen, muss oft noch etwas hinzukommen, ein zusätzliches Gefühl, das de Waal eben als „Sympathie“ bezeichnet. Sympathie geht also über Empathie hinaus, weil sie „proaktiv“ ist. Sympathie steht immer noch in Verbindung mit den verkörperten Automatismen der Empathie.
Irgendwann überschreitet das Schichtenmodell der menschlichen Empathiefähigkeit in den späteren Schichten die Grenze zum Bewusstsein: Im Kern befindet sich ein automatischer Prozess, den viele Arten gemeinsam haben. Ihn umgeben äußere Schichten, die für eine Feinabstimmung von Zielen und Reichweite sorgen. Nicht alle Arten besitzen alle Schichten: Nur wenige übernehmen die Perspektive anderer, eine Fähigkeit, die wir meisterhaft beherrschen. Doch selbst die höchstentwickelten Schichten der Puppen bleiben normalerweise mit ihrem ursprünglichen Kern verbunden.[15]
Schimpansen und Bonobos haben beispielsweise ein ausgeprägtes Sozialverhalten, sie kümmern sich um verletzte Angehörige, teilen ihre Nahrung, warnen den Clan vor einem Leoparden, womit sie den Leoparden zunächst auf sich selbst aufmerksam machen und holen für bedrängte Angehörige Hilfe. Es gibt Berichte über Hilfe und Fürsorge sogar für artfremde Mitlebewesen.
De Waal meint, er könne zeigen, dass wesentliche Elemente menschlichen [Wirtschafts]verhaltens wie Reziprozität – Gutes mit Gutem vergelten –, faires Teilen und Kooperation sich nicht auf unsere Spezies beschränken. Wahrscheinlich entwickelten sie sich bei anderen Tierarten, weil sie ihnen dieselben Selektionsvorteile bieten wie uns: Ein Individuum kann ein Optimum an Nutzen von einem anderen beziehen, ohne die gemeinsamen, für das Gruppenleben unabdingbaren Interessen zu beeinträchtigen.[16]
Es geht um Altruismus, das heißt um den Verzicht zu Gunsten anderer. In den 1990er Jahren werden die Spiegelneurone[17] von den beiden italienischen Hirnforschern Giacomo Rizzolatti und Vittorio Gallese entdeckt und dienen als Erklärungsbasis für altruistisches Verhalten bei Tier und Mensch. Die Neurobiologie weist darauf hin, dass die Wirkung der Spiegelneurone altruistisches Handeln fördere. Altruismus, so de Waal, ist auch immer eine Frage der Ressourcen, ein Luxus. Altruismus richtet sich zunächst auf die nächsten Verwandten, erst danach kommen die Interessen des eigenen Stammes, der Nation.
Prosoziales Verhalten unter nicht verwandten Individuen kann auf der Basis der Reziprozitätnorm mit der Theorie des wechselseitigen Altruismus erklärt werden. Prosoziales Verhalten werde durch natürliche Selektion begünstigt, sofern die Kosten für den Helfenden niedriger sind als der Nutzen für den Empfänger. Reziprozität bedeutet eine „wie Du mir, so ich Dir“ – (tit for tat) Mentalität und fordert positive Reaktionen auf gute Behandlung, aber auch negative Reaktionen auf schlechte Behandlung. Prosoziale Reziprozität bedeutet, dass jemand deshalb hilft, weil ihm selber geholfen wurde.[18] Der Arzt und Philosoph Ludwig Büchner (1824 – 1899) hat das im Kapitel Moral seines Buches „der Mensch und seine Stellung in der Natur in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ so formuliert: das einzig richtige und haltbare Moralprinzip beruht auf dem Verhältnis der Gegenseitigkeit. Es gibt daher keine bessere Richtschnur für moralisches Verhalten als den alten und wohlbekannten Spruch: Was Du nicht willst, daß man Dir thu‘, das füg‘ auch keinem andern zu. Ergänzt man diesen Spruch durch den weiteren: Was Du willst, daß man Dir thue, das thue auch anderen – so hat man den ganzen Codex der Tugend- und Sittenlehre in der Hand, und zwar besser und einfacher, als die dickleibigen Handbücher der Ethik oder die Quintessenz aller Religionssysteme der Welt ihn uns liefern könnten.[19]
Beim Verwandtschaftsaltruismus versteckt sich hinter dem helfenden Verhalten ein egoistisches Motiv. Die Theorie des Verwandtschaftsaltruismus besagt, dass wir umso altruistischer sind, je höher der Verwandtschaftsgrad mit der hilfebedürftigen Person ist. Denn durch die Hilfe erhöht sich die Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeit dieser Person und dadurch überlebt auch ein Prozentsatz identischer Gene des Helfenden. So wird dann geholfen, wenn das Produkt von Verwandtschaftsgrad und Nutzen für den Hilfeempfänger grösser ist als die Kosten für den Helfenden. Hamiltons Formel[20] dazu lautet: rb>c; r ist der Verwandtschaftsgrad und b der Nutzen für den Empfänger, während c die Kosten für den Helfenden symbolisieren.
Das Ausmaß der Großzügigkeit hängt von den eigenen Ressourcen ab. Gleichzeitig folgt die ethisch – altruistische Entscheidung dem Charakter und der Erwartung des Eigennutzen. Der Mensch kann eben nichts anders, als der Triebfeder des Lebens, dem Prinzip Eigennutz oder Selbstinteresse[21], zu folgen. Der Mensch ist, wie er will und will, wie er ist[22], lautet Schopenhauers Verdikt über die Ideologien der Freiheit und deren Konzept einer ethischen Vernunft. Das Bild eines Heiligen, wie es von Religionsgemeinschaften aber auch von Ethikern wie Kant gefordert wird, der selbstlos gibt, sich selbst hingibt, ist – wie die Erfahrung aus der Natur zeigt – reine Illusion. Zumindest das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, wenn nicht das Versprechen einer Belohnung zu einem späteren Zeitpunkt, will jeder doch mitnehmen. Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.[23]
Unter ethischen Gesichtspunkten scheint der Mensch also seine Sonderstellung zu verlieren, der Mensch ist also offensichtlich nicht das „guteste“ Wesen auf dieser Welt. Ist er dann wenigstens das einzig böse? Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass zu foltern oder Schmerzen um der Schmerzen willen zuzufügen, nur beim Menschen nie aber im Tierreich vorkomme. Niemand würde einer Katze Bösartigkeit zusprechen, wenn sie mit ihrem Opfer, einer Maus, spielt; wir meinen, sie folge nur ihrem Instinkt. Von jungen Schimpansen dagegen wissen wir, dass sie als Spiel mit Steinen nach Enten werfen oder Küken anlocken, um mit einem Stock nach ihnen zu schlagen; wir wissen von regelrechten Kriegen von Schimpansengruppen gegen ihre Nachbarn, die mit der Ausrottung des benachbarten Clans enden. Die Primatenforscherin Jane Goodall meint, wenn Schimpansen Schusswaffen und Messer hätten und wüssten, wie man mit ihnen umgeht, würden sie ohne jeden Zweifel ebenso davon Gebrauch machen wie wir Menschen.[24] Schimpansen sind gut zur Empathie fähig und es liegt daher nahe anzunehmen, dass sie sich der Folgen ihrer Handlungen durchaus bewusst sind. Es gibt damit im Guten wie im Schlechten keinen qualitativen Sprung vom amoralischen Tier zum moralischen Menschen.
Allerdings spielt dabei auch die Interpretation eine Rolle. Es ist sicher nicht zulässig im Sinne eines Anthropomorphismus, Tieren menschliche Eigenschaften zuzusprechen. Klar ist, dass Tiere keine Menschen sind, genauso klar ist aber auch, dass Menschen Tiere sind. De Waal spricht in diesem Zusammenhang von Anthroponegation und meint damit die absichtliche Blindheit gegenüber menschenähnlichen Charakteristika bei Tieren und tierähnlichen Charakteristika bei Menschen.[25]
Aus der Ähnlichkeit der äußeren Handlungen der Tiere und derjenigen, die wir selbst ausführen, schließen wir, dass auch ihre inneren Handlungen den unsrigen gleichen; und wenn wir nach demselben Prinzip noch einen Schritt weiter gehen, so sehen wir uns genötigt zu schließen, dass, da ihre inneren Handlungen den unsrigen gleichen, die Ursachen, aus denen beide entspringen, gleichfalls übereinstimmen müssen. Wenn also irgendeine Hypothese aufgestellt wird, die zur Klärung einer den Menschen und Tieren gemeinsamen geistigen Tätigkeit dienen soll, so müssen wir zusehen, ob dieselbe Hypothese auf beide, die Tiere und die Menschen, in gleicher Weise anwendbar ist.[26]
Anthropomorphismus wird dann ein Problem, wenn jemand überzeugt ist, dass der Mensch „die Krone der Schöpfung“ sei oder Probleme mit einer evolutionären Sichtweise hat. Ansonsten aber ist der Anthropomorphismus ein berechtigter Ansatz, um das Verhalten der Tiere zu beschreiben.
Die evolutionsbiologische Argumentation, dass die bei Tierprimaten, vor allem bei Menschenaffen, beobachteten Sozialregeln durch genetische Disposition auch beim Menschen programmiert sind, erscheint also plausibel. Der Mensch wurde im Laufe der Evolution mit Dispositionen zum sozialen Leben ausgestattet, er ist allerdings sozial nicht beliebig belastbar. Diese Sozialregeln sind in einer speziellen Umgebung des eigenen Clans mit 40 – 60 Mitgliedern entstanden, die damit völlig verschieden von den späteren und aktuellen menschlichen Groß- und Massengesellschaften sind. De Waals Annahmen gelten zunächst und insbesondere für diese idyllischen Kleinpopulationen. In diesem Zusammenhang beachtenswert scheint, dass in menschlichen Großgesellschaften Machtpositionen nicht selten von Psychopathen und Soziopathen eingenommen werden[27], dass jedoch von Psychopathen in der Population von Tierprimaten nichts bekannt zu sein scheint. Thomas Hobbes Diktum, dass die Menschen einander als Wölfe begegnen, trifft – wenn überhaupt – nur auf die kulturell hochentwickelten Massengesellschaften zu.
Massengesellschaften neigen zur Anonymisierung der Sozialbeziehungen; diese gehen mit Entsolidarisierung und Auflösung von Loyalität gegenüber dem Kollektiv einher. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob – wie Sigmund Freund und Konrad Lorenz postulieren – der Mensch einen „angeborenen“ Aggressionstrieb habe und deshalb stets auf Angriff programmiert sei oder ob Aggressivität primär eine Verteidigungsreaktion darstelle, also nur im Fall von Bedrohung aktiv wird und keineswegs Triebcharakter hat. Auch wenn die Triebthese nicht nur unter Wissenschaftlern[28] sondern auch in der breiten Öffentlichkeit populär ist, dürfte es sich um eine überholte, wenn nicht von Anfang an ideologisch beeinflusste Lehrmeinung handeln. Der Zusammenbruch zivilgesellschaftlicher Ordnung hat meist Ursachen, die meist nicht für einen natürlichen Aggressionstrieb sprechen, sondern sozialökonomischer und politischer Art sind und stets Bedrohungskonstellationen herbeiführen, auf die hin das Reiz–Reaktionsschema handelt. Jüngere Forschungsergebnisse kritisieren die Aggressionstrieb – Hypothese insbesondere in ihrer bellizistischen Ausdeutung durch Konrad Lorenz und erbringen überzeugende Belege für die Reiz-Reaktionshypothese.[29]
Wenn der Mensch des Menschen Wolf ist, dann in jeder, nicht nur negativer Hinsicht. Wir wären nicht dort, wo wir heute sind, wenn unsere Vorfahren weniger gesellig gewesen wären. Wir brauchen eine Generalüberholung unserer Annahmen über die menschliche Natur. Zu viele Wirtschaftswissenschaftler und Politiker machen sich ihr Bild von der menschlichen Gesellschaft nach dem ewigen Kampf, der ihrer Meinung nach in der Natur tobt, jedoch in Wahrheit reine Projektion ist. Wie Zauberkünstler werfen sie ihre ideologischen Vorurteile zunächst in den Hut der Natur und ziehen sie anschließend an den Ohren wieder heraus, um zu zeigen, wie sehr die Natur mit ihnen übereinstimmt. Auf diesen Trick sind wir schon viel zu lange hereingefallen. Natürlich gehört auch der Wettbewerb in dieses Bild, doch Menschen können nicht vom Wettbewerb allein leben.[30]
[1] Immer wieder wird behauptet, dieser Ausspruch stamme aus Hobbes Hauptwerk Leviathan. Stattdessen stammt die Passage aber aus der Widmung des Werkes De Cive, die Hobbes an William Cavendish richtet. Er gebraucht diesen Satz als Beschreibung für den vorstaatlichen Naturzustand des Menschen. Weniger bekannt, aber für das Verständnis zentral ist Hobbes Relativierung des Satzes: Er schreibt, es seien „beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht. http://de.wikipedia.org/wiki/Homo_homini_lupus, Zugriff: 14.04.2014, 19.00hrs
[2] Rousseau J. – J., Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Reclam, 1998, S. 115 ff., Anmerkung IX)
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_von_Humboldt, Zugriff 17.04.2014, 16.50hrs
[4] Freud S. 1930, zitiert nach de Waal F., der Turm der Moral, in de Waal F., wie die Evolution die Moral hervorbrachte, hrsg. und eingeleitet von Marcedo S. und Ober J.; München Hanser 2008
[5] Dawkins R., das egoistische Gen, 1976
[6] Grün K. – J., Die Ökonomie der ethischen Entscheidung, in Roth G., Grün K. – J., Friedman M. (Hrsg.) Kopf oder Bauch? Zur Biologie der Entscheidung; Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2010
[7] Darwin Ch., die Abstammung des Menschen, 1871
[8] De Waal F., Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011
[9] De Waal F., Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte. Hrsg. u. eingeleitet von Macedo S. und Ober J., München 2008, Hanser
[10] Ebd.
[11] De Waal F., Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte. Hrsg. u. eingeleitet von Macedo S. und Ober J., München 2008, Hanser
[12] De Waal F., Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011, Hanser
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] De Waal F., Tierische Geschäfte, in Spektrum der Wissenschaft Dossier Fairness, Kooperation, Demokratie 5, 2006, S. 73
[17] Ein Spiegelneuron ist eine Nervenzelle, die im Gehirn von Primaten beim Betrachten eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster aufweist, wie es entstünde, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern selbst (aktiv) durchgeführt würde. Auch Geräusche, welche mit bestimmten Handlungen assoziiert sind, verursachen bei einem Spiegelneuron dasselbe Aktivitätsmuster, welches die aktive Handlung verursachen würde. Seit ihrer erstmaligen Beschreibung im Jahr 1992 herrscht eine Debatte darüber, inwieweit Spiegelneurone zu den Fähigkeiten der Empathie und Imitation bei Primaten beitragen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelneuronen, Zugriff 18.04.2014, 10.05hrs
[18] Stroebe, W., Jonas, K. Hewstone, M.. Sozialpsychologie; Springer-Verlag, Berlin 2003
[19] Büchner L., der Mensch und seine Stellung in der Natur in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Thomas, Leipzig 1872, zitiert nach Wuketits F. M., wieviel Moral verträgt der Mensch, eine Provokation; Verlagshaus Gütersloh, 1. Auflage Gütersloh 2010
[20] http://de.wikipedia.org/wiki/Verwandtenselektion, Zugriff 21.04.2014, 15.05hrs
[21] Höffe O., Lexikon der Ethik, Verlag C.H.Beck, siebente Auflage 2008, Stichwort „Selbstinteresse“
[22] Schopenhauer A., über die Freiheit des menschlichen Willens, Zürich, Diogenes 1977
[23] Smith A., Theorie der ethischen Gefühle, 1759
[24] Goodall J., zitiert nach de Waal Frans, Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind; München 2009, dtv
[25] De Waal F., Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte. Hrsg. u. eingeleitet von Macedo S. und Ober J., München 2008, Hanser
[26] Hume D., Traktat über die menschliche Natur, 1793
[27] Oakley B. Biologie des Bösen. Tyrannen in der Weltgeschichte und des Alltags. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2008,
Wirth, H. – J., Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik (3. Auflage); Gießen: Psychosozial – Verlag 2006
Scheusch E. K., Scheusch U., Manager im Größenwahn; Reinbek, Hamburg 2003
[28] Dressler S., Zink C., Pschyrembel. Wörterbuch der Sexualität; Walter de Gruyter, Berlin und New York 2003
[29] Bauer J., Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus; Hamburg, Hoffmann und Campe 2008
[30] De Waal F., Das Prinzip Empathie, Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011, Hanser