die Legende vom heiligen Martin – Gedanken zur maurerischen Wohltätigkeit

Wir alle kennen die Legende vom heiligen Martin, die in diesen Tagen die Kinder in den Kindergärten erzählt bekommen und mit ihren Laternenumzügen feiern.

 

Um das Jahr 338 war Martin als Soldat der Reiterei der Garde des Kaisers Konstantin in Amiens stationiert. Sie trugen Metallpanzer, Kammhelm, Schild, Schwert und über allem die Chlamys, einen weißen Überwurf aus zwei Teilen, der im oberen Bereich mit Schafffell gefüttert war. An einem Tag im Winter begegnete Martin am Stadttor von Amiens einem armen, unbekleideten Mann. Außer seinen Waffen und seinem Militär­mantel trug Martin nichts bei sich. In einer barmherzigen Tat teilte er seinen Mantel mit dem Schwert und gab eine Hälfte dem Armen.

 

Diese Geschichte berührt und gilt als Vorbild für mildtätiges, wohltätiges Handeln. So­weit so gut.

Meines Erachtens werden bei dieser Legende zwei Dinge übersehen. Martin ist römischer Offizier; in spätrömischer Zeit wurde die Ausrüstung zur Hälfte vom Staat gestellt, die andere Hälfte musste der Soldat selbst finanzieren. Martin hat also genau sein Eigentum weitergegeben. In kirchlichen Texten wird immer betont, er habe geteilt.

 

Ist dieser erste Einwand anekdotisch, so ist der zweite aus meiner Sicht gewichtig. Martin handelt nach der Tugend der christlichen Nächstenliebe, er ist gütig und mild­tätig. Er lässt sich von seinem Mitleid mit diesem frierenden Menschen hinreißen, eine Tat zu setzen um den Preis, dass nachher keiner von beiden einen vollständigen Mantel hat. Martin spürt die Ungerechtigkeit und handelt nach dem Augenschein. Vielleicht wäre es Ziel führender gewesen, wenn er zunächst mit dem Bettler gesprochen hätte? Dann hätte er vielleicht erfahren, dass dieser Mann nur deshalb ein Bettler ist, weil er arbeitslos ist, sich aber mit seiner zerlumpten Kleidung nirgends vorstellen kann. Wäre es da nicht gerechter, dem Bettler den Mantel zu borgen, damit dieser sein Vor­stellungsgespräch absolvieren kann?

 

Es geht also bei diesem Thema um Gerechtigkeit. Die Frage, was ist gerecht be­schäftigt die Philosophie seit ihren Anfängen, und die Philosophen haben darauf die unterschiedlichsten Antworten gefunden. Im Wesentlichen kann man drei Gruppen von Gerechtigkeitstheorien unterscheiden

  • Die moralbezogenen Gerechtigkeitstheorien, wie wir sie bei Aristoteles, in der Bibel und der kirchlichen Lehre, Immanuel Kant, Adam Smith und Karl Marx finden
  • Den Utilitarismus als statische Gerechtigkeitstheorie
  • Anti-Utilitaristische Gerechtigkeitstheorien wie den Ansatz von Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls

 

Aristoteles behandelt in seinem Fünftem Buch der Nikomachischen Ethik den Ge­rechtigkeitsbegriff, er bezieht sich dabei auf Platon, der in der Politeia die Gerechtig­keit als die größte der vier Haupttugenden bezeichnet. Aristoteles beginnt seine Über­legungen mit dem Begriff der allgemeinen Gerechtigkeit, der mit Treue gegenüber den Gesetzen eines Gemeinwesens gleichgesetzt wird. Diese werden in ihrem Grad er Voll­kommenheit gegenüber naturrechtlichen Normen als mehr oder weniger gerecht einge­schätzt. Basis ist das formale Prinzip der Gleichbehandlung. Aristoteles zieht eine Ver­bindung zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit „Wenn nun das Ungerechte Ungleichheit bedeutet, so bedeutet das Gerechte Gleichheit““. Allerdings versteht Aristoteles unter Gleichheit nicht Gleichstellung, denn „das Gerechte ist etwas Proportionales“, und „das Gerechte bei den Verteilungen muss nach einer bestimmten Angemessenheit in Er­scheinung treten“.

 

Aristoteles unterscheidet nun zwischen kommunikativer oder Tauschgerechtigkeit (auch Vertragsgerechtigkeit) und distributiver oder Verteilungsgerechtigkeit, beide beziehen sich auf angemessene Beziehungen. Tauschgerechtigkeit zielt auf den vertraglich ver­einbarten gerechten Tausch von Gütern, Tauschgerechtigkeit verlangt arithmetische Gleichheit. Verteilungsgerechtigkeit zielt auf die angemessene Verteilung von Ehre, Sicherheit, Geld und wird als mittleres, arithmetisches Maß zwischen Gleichheit und Ungleichheit verstanden. Nach Aristoteles kann daher eine Entscheidung oder Be­ziehung nur dann als gerecht eingestuft werden, wenn klar ist, ob von Tauschgerechtig­keit oder Verteilungsgerechtigkeit die Rede ist. Gerechtigkeit ist nie absolut sondern immer kontextbezogen. (gerecht im Bezug auf)

 

Biblische und in der Folge kirchliche Gerechtigkeitstheorien sind stärker von Güte als von Gleichheit geprägt. Typisch für diese Sicht ist das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20), in dem die Arbeiter gleich viel Lohn bekommen, unabhängig davon wie lange sie tatsächlich im Weinberg gearbeitet haben. Christliche Gerechtigkeit kommt ohne Gleichheit des Einzelnen aus. Thomas von Aquin in Summa Theologica: „bei der allgemeinen Gerechtigkeit ist zu betrachten, dass alle, die einer Gemeinschaft an­gehören, sich zu dieser wie Teile zum Ganzen verhalten. Der Teil als solcher ist etwas vom Ganzen. Daher lässt sich das Wohl des Teils auf das Wohl des Ganzen hinordnen.“ Christliches Gerechtigkeitsverständnis pendelt also zwischen Mildtätigkeit bzw. Güte und Gemeinwohl.

 

Erst durch die Enzyklika „Rerum novarum“ (1891 von Papst Leo XIII) und die Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931 von Papst Pius XI) wird der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ in das christliche (katholische) Gerechtigkeitsdenken eingeführt. Subsidiarität ist der zentrale Begriff zur Lösung der sozialen Probleme, Hilfe zur Selbsthilfe das zentrale Prinzip. Die Verantwortung höherer Einheiten ist subsidiär. Es geht um Solidarität, Nächstenliebe; soziale Gerechtigkeit, Fernstenliebe ist subsidiär.

 

Auch wenn die europäischen evangelischen Kirchen inzwischen ein ähnliches Gerechtig­keitsverständnis wie die katholische Soziallehre entwickelt haben, so war der evangelische Zugang ursprünglich ein anderer. Nicht Gleich- oder Ungleichstellung ist das Ziel evangelischer Gerechtigkeit sondern Gutstellung (Prädestinationslehre nach Calvin), Gerechtigkeitsdenken als Streben nach dem höchsten Glück in einer besseren Welt, dem eine gute Stellung in der diesseitigen Welt vorausgehen muss.

 

Immanuel Kant scheint sich für den Begriff „Gerechtigkeit“ nicht zu interessieren. Für Kant ist moralisch gut, was sich vernünftig ermitteln und zu einem allgemeinen Gesetz erheben lässt: „Handle stets so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. (…) Folgerung: Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir Sitten­gesetz nennen“. (Kant, Kritik der praktischen Vernunft). „Was nach äußeren Gesetzen recht ist heißt gerecht (iustum), was es nicht ist (iniustum).“ (Kant, Einleitung in die Metaphysik der Sitten). Kants Gerechtigkeitsphilosophie ist eine Philosophie der Methode zur Entwicklung gerechter Handlungen, er stellt die Frage nach dem „guten“ und „bösen“ Handeln. Das Verfahren soll gerecht sein. Vorbedingung ist, dass sich alle Glieder einer Gesellschaft vernünftig verhalten. Für Kant ist Gerechtigkeit, das Über­einstimmen mit spezifischen Regeln in spezifischen Kulturen, vorausgesetzt es gibt einen als gerecht anerkannten Regelsetzer. In diesem Sinn verbinden sich bei Kant ethische und moralische Ansätze, die Gerechtigkeitsverantwortung der Gesellschaft und die der Person.

 

Für Adam Smith und mit ihm für die gesamte klassische Ökonomie sorgt die unsichtbare Hand des Marktes für größtmögliche Gerechtigkeit und damit sozialen Ausgleich; Vor­aussetzung ist allerdings, dass alle Marktteilnehmer vollständig informiert sind, sich vernünftig verhalten und der Markt nicht extern gelenkt wird. Smith sieht im Markt den größten Gerechtigkeits- und Wohlstandsstifter. Gerechtigkeit wird vorausgesetzt, Gleichheit ist das Ergebnis. „Räumt man also alle Begünstigungs- oder Beschränkungs­systeme völlig aus dem Wege, so stellt sich das klare und einfache System der natür­lichen Freiheit von selbst her. Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze der Ge­rechtigkeit verletzt, vollkommene Freiheit…“ (Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations). Unter den von Smith formulierten Bedingungen scheint es zwischen den individuellen und den gesellschaft­lichen Interessen keinen Widerspruch sondern Harmonie zu geben. Hier wird Ge­rechtigkeit als Freiheit und als Schaffung des größtmöglichen Glücks für die größt­mögliche Zahl verstanden.

 

Karl Marx beginnt seine Überlegungen mit der Ungleichheit der Menschen, die eben in unterschiedlichen Lebenslagen – Klassen – leben. Er entwickelt ein modifiziertes Gleich­heitsgebot. „Das gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. (…) Es ist da­her ein Recht der Ungleichheit seinem Inhalt nach, wie alles Recht. (…) Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht statt gleich vielmehr ungleich sein.“ In der sozialistischen Übergangsgesellschaft wird die Leistung des Einzelnen nach den Regeln der distributiven Gerechtigkeit abgegolten. Erst in der nächsten Gesellschaftsstufe, dem Kommunismus wird nach Marx strikte Gleichstellung erreicht sein. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

 

Hier steht Marx im Gegensatz zu Aristoteles, der beiden Ideen von Gerechtigkeit – dem der Verteilung und dem der Gleichstellung – im Jetzt einen Platz nebeneinander einräumt. Für Marx existiert strikte Gleichheit erst in einer utopischen, zukünftigen Welt. Im Hier und Heute muss der Kampf nach einer distributiven Gerechtigkeit ge­führt werden; Chancengleichheit ja, Gleichstellung noch nicht. Die reale Politik, wie wir sie kennenlernen konnten, war dann allerdings keine egalitäre sondern eine utilitaristische.

 

Utilitaristisch ist ein Denkansatz dann, wenn Gerechtigkeit definiert ist als das, was den größten Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen bringt. Das Individuum taucht in utilitaristischen Gerechtigkeitsphilosophien nur noch am Rande auf, wenn es gilt die Mehrheit zu definieren, deren Nutzen maximiert werden soll, oder als Teil jener, die sich dem Nutzen der Mehrheit unterwerfen müssen.

 

Der Utilitarismus lässt sich ursprünglich auf Epikur zurückführen. Epikur betrachtet Gerechtigkeit und Recht unter dem Gesichtspunkt des Nutzens, den dieser auf dem Weg zu einem glückseligen Leben zu stiften in der Lage ist. Dieses Prinzip der Schaffung eines größtmöglichen Nutzens für die Mehrheit der Mitglieder einer Ge­sellschaft führt zu so etwas wie einem Gesellschaftsvertrag. Die Ethik gründe auf einem Nützlichkeitsprinzip, das im Fall von Alternativen jener Entscheidung den Vorzug gibt, die insgesamt den größten Nutzen für die Beteiligten schaffen kann, auch wenn dieser Nutzen zu Lasten einzelner Beteiligten geht.

 

Der Utilitarismus hat als Ziel nicht Gerechtigkeit, sondern Nutzen bzw. Nützlichkeit. Nach John Stewart Mill – neben David Hume einer der wesentlichen Denker des Utilitarismus – ist Gerechtigkeit ein von der Nützlichkeit abgeleitetes Sekundärprinzip. Gerechtigkeit ist ein Derivat der sozialen Nützlichkeit. Das Nützlichkeitsprinzip ist das oberste Prinzip, das die Gerechtigkeit leitet.

 

Der US-amerikanische Philosoph John Rawls (1921 bis 2002) gibt mit seinem egalitären Liberalismus eine Antwort auf das Gerechtigkeitsproblem des Utilitarismus. In seinem Buch „A Theory of Justice“ (1971) entwickelt er einen Ansatz, der in bewusstem Gegen­satz zum Utilitarismus in der Kant’schen Tradition steht. Fundamentale Freiheiten und Rechte des Einzelnen dürfen nicht durch Gesamtnutzenerwägungen eingeschränkt werden, lautet seine zentrale These. Jedoch, moralisch Normen können nicht eins ohne das andere schützen, die gleichen Rechte und Freiheiten des Individuums nicht ohne das Wohl des Nächsten und der Gemeinschaft, der sie angehören.

 

Für Rawls sind die Grundsätze der Gerechtigkeit:

„1. Jeder soll gleiches Recht auf das unfangreiche System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen erträglich ist.

  1. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass
  2. a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen und
  3. b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“

Diese beiden Grundsätze gelten lexikalisch, das heißt, der erste muss erfüllt sein, bevor der zweite in Kraft tritt.

Dieser Grundsatz wird weiter ausdifferenziert, für Institutionen werden folgende Ge­rechtigkeitssätze formuliert:

„Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamt­system gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche müssen folgendermaßen beschaffen sein:

  1. a) sie müssen unter Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen und
  2. b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.

Erste Vorrangregel (Vorrang der Freiheit): die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; demgemäss können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden und zwar in folgenden Fällen

  1. a) eine weniger umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken
  2. b) eine geringere als gleiche Freiheit muss für die davon Betroffenen annehmbar sein.

Zweite Vorrangregel (Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfreiheit und Lebens­standard): der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfreiheit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet; und zwar in folgenden Fällen

  1. a) eine Chancenungleichheit muss die Chancen der Benachteiligten verbessern
  2. b) eine besonders hohe Sparrate muss insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.“

Rawls fordert faire Chancen, nicht nur formale Chancengleichheit (gleiche gesetzliche Rechte). Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten sollen ähnliche Lebenschancen haben. Dem liegt die Auffassung zu Grunde, dass gesellschaftliche oder natürliche Zufälligkeiten zu unterschiedlichen Möglichkeiten führen. Es muss also ein öffentliches Regelsystem geben, welches sicher stellt, dass alle Menschen mit gleichen Begabungen gleiche Auf­stiegschancen haben, ungeachtet ihrer ursprünglichen Stellung.

 

Rawls stellt das Differenzprinzip dem Nutzenprinzip des Utilitarismus entgegen, dessen Gerechtigkeitsansatz für  ihn Ungerechtigkeit begründet, da der Utilitarismus zulässt, dass einzelne Menschen im Namen der Gerechtigkeit aller schlechter gestellt werden können. Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, sind dann und nur dann gerechtfertigt, wenn sie auch dem schlechtest gestellten Mitglied der Ge­sellschaft noch zum Vorteil gereichen. Rawls geht soweit, in der Verteilung natürlicher Begabungen nicht selbst verschuldete bzw. nicht verdiente Ungleichheiten zu sehen.

 

Rawls postuliert einen Gesellschaftsvertrag, der von einer fairen und gleichen Ver­handlungsposition ausgeht. Seine Annahmen sind:

  • Gesellschaft von Personen, die miteinander die Grundstruktur ihrer Gesellschaft, ihre Gerechtigkeitsprinzipien festlegen wollen.
  • Interessenharmonie: Zusammenarbeit ist wünschenswert und möglich
  • Interessenkonflikte: wie werden die Früchte der Zusammenarbeit verteilt?
  • Rational und auf Erfüllung der eigenen Interessen bedacht, jedoch frei von Neid
  • Der Schleier des Nichtwissens („veil of uncertainty“), d.h. die einzelnen Personen besitzen nur allgemeines Wissen (z.B. um gesellschaftliche Grundgüter, politische, wirtschaftliche Zusammenhänge) kein individuelles Wissen (z.B. ihre Interessen, Kenntnisse, Talente)

 

Geliebte Brr...! Der Untertitel zu meinem Baustück ist „Gedanken zur maurerischen Wohltätigkeit.“ In der Belehrung des MvSt nach der ersten Reise der Rezeption wird zu  den Pflichten des Maurers die „zielbewusste Wohltätigkeit“ gezählt. Nach seiner Aufnahme wird der Neophyt aufgefordert, der Armen zu gedenken. In den Alten Pflichten ist von der Verpflichtung die Rede, einem in Not geratenen Bruder zu helfen oder ihn allen anderen Armen vorzuziehen. Auch sollen wir „zum Wohl der ganzen Menschheit arbeiten“. Mehr habe ich in den offiziellen Schriften zur maurerischen Wohltätigkeit nicht gefunden.

 

Die maurerische Wohltätigkeit beschränkt sich meinem Erleben nach meist auf Almosengeben nach der Art des Heiligen Martin. Sie ist das maurerische Gegenstück zur christlichen Nächstenliebe. Nächstenliebe entsteht aus Mitleid, persönlicher Betroffenheit über die augenfällige Ungerechtigkeit. Die Motivation für diese wohltätige Handlung entsteht aus der Position des Stärkeren, der etwas von seinem Überfluss an den Schwächeren ab- und weitergeben will. Diese Einstellung fragt nicht nach den Ursachen und auch nicht nach der Sinnhaftigkeit der Handlung. Ziel ist im Grunde weniger die Hilfe für den Empfänger als die Beruhigung des Gewissens des Spenders. Wir kennen solche Aktionen von manchen institutionellen Großspendern, als Beispiel erwähne ich den Pharmakonzern, der ohne entsprechende begleitende Aufklärung die Antibabypille nach Afrika verschifft.

 

Diesem Verständnis von Nächstenliebe möchte ich den Begriff Fernstenliebe gegenüber stellen. Fernstenliebe sucht die Ungerechtigkeit dort, wo sie nicht augenfällig wird und versucht die Ungleichheit aufzuheben. Lessing schreibt in Ernst und Falk: „die guten Taten der Maurer sind solche, die die guten Taten über­flüssig machen“. Maurerische Wohltätigkeit sollte also nach dem Prinzip der Fernstenliebe erfolgen. Fernstenliebe hat meines Erachtens als wesentlichen Aspekt die Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit sowohl für den Empfänger als auch den Spender.

 

Für den Empfänger bedeutet dies, dass er tatsächlich das erhält, was er wirklich braucht, nicht Brosamen vom Tisch Überflusses. In einem nachhaltigen, wohltätigen Projekt wird der Empfänger als gleichwertiger Vertragspartner mit Pflichten und Rechten wahrgenommen (ähnlich einem Sponsoringvertrag, wie ihn die Tiroler Festspiele Erl mit der STRABAG haben). Für den Spender bedeutet nachhaltig, dass das Ziel, welches er mit seinen Spenden erreichen will, verlässlich erreicht wird.

 

Die maurerische Wohltätigkeit unserer Bauhütte erstreckt sich in zwei Richtungen. Die eine ist die Sorge für in Not geratene Brüder der eigenen Loge. Dafür haben wir die Bruderlade, die durch den SdW dotiert wird. Die zweite Richtung ist die der nach außen gerichteten Projekte, ein Gebiet auf dem wir in unseren ersten fünf Jahren einen großen Nachholbedarf haben. Ich glaube, wir sollten von diesem Almosen geben, wie wir es bisher praktizierten, weg kommen. Als Loge sind wir eine Gruppe, ein Verein, der systematisches, institutionelles Spenden betreiben kann. Natürlich können wir auch als einzelne Loge uns um Nachhaltigkeit im einzelnen Projekt bemühen, doch meine ich, dass dieser Aufwand unsere Möglichkeiten übersteigt. Wenn überhaupt, wäre das die Aufgabe der GL und des Br... GAlm, die diese Arbeit für alle LL der Kette übernimmt. Einfacher und auch zielführender ist es jedoch, wenn wir uns an eine erfahrene und renommierte NPO wenden und uns dieser als institutioneller Spender verpflichten.

 

Auch wenn wir FM mit unseren Aktivitäten nicht an die Öffentlichkeit gehen, so ist es doch wichtig, dass die Organisation mit ihren Projekten „ideologisch“ passt (die Unterstützung der Kameradschaft IV ist es nicht). Wir müssen – und das sehe ich als eine mögliche Aufgabe unseres Wohltätigkeitskomitees – die Organisation, die wir unterstützen wollen, sorgfältig auswählen und ihre Ziele und Projekte prüfen. Ziel ist, eine längerfristige Partnerschaft aufzubauen, die letztlich allen drei Betroffenen etwas bringt, uns als Geber, der NPO als Transmissionsriemen und dem Empfänger als der Hilfe bedürftig.

 

Wir als Geber wollen, dass unsere Mittel ihr Ziel verlässlich erreichen und das bewirken, was wir erwarten. Die Organisation braucht regelmäßige Spender – unabhängig von der Popularität und Aktualität ihrer Ziele, die ihr das Arbeiten erst ermöglichen. Sie steht mit ihrem Namen und mit ihrem Know-how dafür gerade, dass die eingesetzten Mittel ihren Zweck erfüllen. Für die Empfänger geht es um Verlässlichkeit.

 

Ich meine, „richtige“ maurerische Wohltätigkeit findet nur statt, wenn am Ende Spender und Empfänger glücklich sind. Dafür müssen wir zunächst unsere eigenen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Möglichkeiten definieren, um danach wofür, wann, wie viel, wie oft… festzulegen.

 

Literatur

  • Feist Barbara, Gedanken zum richtigen Spenden, Vortragsunterlagen 2006
  • Höffe Otfried, Gerechtigkeit, Eine philosophische Einführung, C.H. Beck Wissen, München 2001
  • Höffe Otfried, Immanuel Kant, beck’sche Reihe, Denker, München 1983
  • Horn Christoph und Nico Scarano, Philosophie der Gerechtigkeit, Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1563, Frankfurt am Main 2002
  • Kersting Wolfgang, John Rawls zur Einführung, Junius Verlag 2001, Hamburg
  • Schmid Tom, Gleichheit und Gerechtigkeit – zwei aufeinander bezogene Begriffe?, Qualitätsentwicklung Gender Mainstreaming 2007

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