Fast jedes Buch und fast jeder Vortrag, das/der sich mit der Philosophie des Todes beschäftigt,beginnt mit folgendem Zitat: Philosophieren heißt Sterben lernen (que philosopher, c’est apprendre mourir, Michel de Montaigne, Essaie I, 20). Dieses Zitat wird als erstem demplatonischen Sokrates (469 vuZ – 399 vuZ) im Dialog Phaidon zugeschrieben, mit und nach ihm sagt es der Stoiker Seneca (1 – 65): Leben muss man ein Leben lang lernen, aber, worüber du dich noch mehrwundern wirst, sterben muss man ein Leben lang lernen. (Vivere totam vitam discendum est, sed, quod magis fortasse miraberis, totam vitam discendumest mori. Seneca, de brevitate vitae). Der Neostoiker Michel de Montaigne (1533 – 1592) hat es in seinen Essais eingeschärft und wiederholt. Alle drei meinen mit dem, was da gelernt werden soll, die richtige Einstellung zum Leben. Ähnlich sagt es auch Baruch de Spinoza (1632 – 1677): Der freie Menschdenkt über nichts weniger als über den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod sondern über das Leben.
Montaigne postuliert so etwas wie die Ökonomie der kurzen und kostbaren Lebensspanne. Mit „sterben lernen“ – etwas, was wir Menschen bei ersten Mal schon gut können (Nicolas Chamfort, 1741 – 1794) – meint Montaigne keine düstere Todessehnsucht. Der nachdenkliche Mensch, soll sich darüber klar werden, dass seine Lebenszeit begrenzt ist. Nach Montaigne gehe es darum, sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden und so zu den richtigen Prioritäten im Leben zu finden. Es gilt, selbstbewusst die eigenen Prioritäten im Leben zu finden und so seinem Leben einen Sinn zugeben. Für Montaigne ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit. (Michel de Montaigne)
In diesem Sinn möchteich den Titel meiner Zeichnung als Paraphrase, als Weiterdenken, dieses Gedankens von Montaigne und Spinoza verstanden wissen. Meine Annäherung an das Phänomen Tod wird eine praktische sein, und damit geht es mir um meine Einstellung zum Leben. Alles was Philosophie und Religion über die Zeit nachdem Tod eines Individuums sagen, bleibt letztendlich Spekulation, denn in Wirklichkeit wissen wir nicht, was nach dem Tod kommt. Meine Gedanken entstehen aus dem Erlebten der vergangenen Monate und Jahre, daraus, was ich dazu gelesen habe.
Selbst die scheinbare Tatsache, dass alle Lebewesen sterblich sind, bleibt – folgen wir dem konsequenten Erkenntnistheoretiker und Skeptiker David Hume (1711 – 1776) – eine durch nichts begründbare und wissenschaftlich nachweisbare Annahme. Aus der Tatsache, dass bis jetzt noch alle Lebewesen, insbesondere alle Menschen, irgendwann einmal gestorben seien, könne nicht mit 100 Prozent Sicherheit geschlossen werden, dass auch jeder weitere Mensch sterben müsse. Denn vielleicht bin gerade ich der Mensch, der diese scheinbar so sichere und dennoch durch nichts begründete Regel durchbricht. Wie alle skeptischen Argumente lässt sich auch dieses nicht widerlegen. Da aber Menschen offensichtlich durch Krankheiten und Unfälle getötet werden und da Menschen darüber hinaus altern und ihre Widerstandskraft nachlässt, ist die Unsterblichkeit trotzdem höchst unwahrscheinlich.
Die moderne Entwicklungspsychologie hat uns in den letzten Jahrzehnten gelehrt, dass das Wissen um die eigene Sterblichkeit nicht angeboren ist; das heißt, dass es keine intuitive apriorische Todesgewissheit gebe, sondern dass diese erworben wird. Aus dem Erleben in ihrer persönlichen Umgebung gelangen Kinder Schritt für Schritt zu einem Verständnis des Begriffs Tod. Nach und nach erfahren wir empirisch, dass die Menschen sterblich sind und dass auch ich eines Tages sterben und dann tot sein werde.
Das Wort „Tod“ bezeichnet zwei grundlegend verschiedene Begriffe: einen empirischen und einen existentiellen. Empirischer Tod bedeutet, dass alle biologischen und psychischen Lebensfunktionen aufhören. Die Erfahrung lehrt, dass diese Form des Todes grundsätzlich unvermeidlich, irreversibel und universell ist; der Tod trifft jedes Lebewesen als Objekt. Im Gegensatz dazu stellt die Hypothese vom existentiellenTod die Frage nach der Selbstdeutung und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz und personalen Identität.
Epikur (341 vuZ – 271 vuZ) kommentiert die Unausweichlichkeit des Todes so: Das schauererregendste aller Übel, der Tod, betrifft uns überhaupt nicht; wenn wir sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind wir nicht. Er betrifft also weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da er ja für die einen nicht da ist, die andern aber nicht mehr für ihn da sind.
Dieses Zitat Epikurs will den Menschen die Angst vor dem Tod nehmen und klingt beim ersten Hören stark nach Trösten durch Verdrängen. Denn der Tod ist stets da, wo wir sind, zumindest in dem Sinne,dass wir ständig in der Welt, in der wir leben, erfahren, mit ansehen, erleben und damit fertig werden müssen, dass gestorben wird. Wir bekommenmit, wie um uns herum andere Menschen – und Tiere – sterben. Insofern ist der Tod da, wo wir sind, und er berührt uns auch.
Man muss beim Selbstverhältnis des Individuums ansetzen, um Epikur richtig zu verstehen. Es geht ihm offenbar um das, was der eigeneTodfür den einzelnen bedeutet. Im Blick auf den eigenen Tod ist in dem Hinweis auf das Ende der Bewusstseins- und Erlebenskontinuität, durch welches das Problem für das erlebende Bewusstsein gegenstandslos wird, die Lösung zu sehen. Die Lösung des Todesproblems für den Einzelnen besteht demnach in nichts anderem als in dem Hinweis auf das vollständigeEnde, das alle weitergehenden Vorstellungen gegenstandslos macht – und damit auch alle Befürchtungen, weil es das Ende aller Möglichkeiten des Erlebens ist, über das hinaus wir nichts mehr zu fürchten hätten. Genaugenommen versucht er unseren Blick auf das Leben im Hier und Jetzt zu richten. Er fordert uns auf, keinen Blick auf das zu verschwenden, was vielleicht sein oder vielleicht auch einmal nicht sein wird.
Auch wenn der Tod für uns kein Gegenstand von Erfahrung und Wissen ist, hören wir nicht auf, uns mit der Tatsache unserer Sterblichkeit zu beschäftigen – nicht unbedingt, weil wir uns wider bessere Einsicht doch über die Grenze unseres Erlebens und unserer Erkenntnis wegschleichen wollen, sondern gerade weil uns die sichere Gewissheit schreckt, dass der Tod das Ende unseres individuellen Lebens und damit aller unserer Ansprüche und Chancen ist. Was bleibt, ist das Sterben, diese letzte Etappe im Leben eines Menschen.
Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) hat diesen Gedanken Epikurs weiterentwickelt; in seinem Hauptwerk „die Welt als Wille und Vorstellung“ führt er aus, dass es keinen Grund gebe, den Tod zu fürchten, wenn sich diese Furcht auf das zu erwartende Nicht-Sein bezieht. Wenn wir unser Leben als lineare Zeitachse betrachten, dann war vor unserem Sein in der Zeitlichkeit das Nichtsein ebenso wie es nach dessen Ende sein würde.
Wenn, was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt, der Gedanke des Nichtseyns wäre, so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, daß das Nichtseyn nach dem Tode nicht verschieden seyn kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerther.
Wir bewegen uns während unseres Lebens auf einer Linie zwischen Geburt und Tod (…unsere Reise von der Geburt zum Tode soll eine Wanderung zur Vollkommenheit sein…, Ritual der Erhebung, GLvÖ). Auch wenn Philosophie und Religion seit Jahrtausenden darüber spekulieren, was vor der Geburt war und nach dem Tod sein wird, so wissen wir darüber nichts. Unter dem Aspekt Zeitlichkeit haben wir ein Zeitempfinden entwickelt. Wir teilen unsere Zeit – unser Leben – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein. Die Vergangenheit ist jedoch vorbei, ist bestenfalls (verklärte) Erinnerung. Die Zukunft hat noch nicht begonnen, auf die Unwägbarkeiten, die die Zukunft mit sich bringt, haben wir keinen Einfluss, aktiv gestalten können wir die Zukunft nicht. Wir werden nicht gefragt, ob wir damit einverstanden sind, was das Leben so bringt. (Bertolt Brecht, 1898 – 1956: …ja mach nur einen Plan, dann mach auch noch n‘en zweiten Plan, am End‘ tun’s beide nicht…).
Daran, was vor unserer Geburt war – auch schon vor unserer Zeugung – können wir uns nicht erinnern, daher fällt es uns leicht mitdieser „verlorenen“ Zeit sachlich, neutral umzugehen. Dieser Zeit weinen wir nicht nach. Mark Twain (1835 – 1910) fasst diesen Gedanken so zusammen: Bevor ich geboren wurde, war ich MillionenJahre tot, was mir nie auch nur die geringste Unannehmlichkeit bereitete. (I was dead for millions of years before I was born and it never inconvenienced me a bit).
Der Tod jedoch setzt unserem Leben eine klare zeitliche Grenze, und damit haben wir ein ungutes Gefühl, weil wir glauben, dass wir damit keine Zukunft mehr haben werden. Wir glauben, wir würden etwas versäumen, oder von uns könnte nichts bleiben. Was wir fürchten, ist die Abwesenheit von Zukunft, noch einmal Epikur: Geboren sind wir nur einmal; zweimal ist es nicht möglich, geboren zu werden. Notwendig ist es, die Ewigkeit hindurch nicht mehr zu sein. Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages und schiebst dennoch das Erfreuliche auf. Das Leben geht unter Zaudern verloren, und jeder einzelne von uns stirbt in seiner Unrast. Interessanterweise nimmt auch der Glaube an Unsterblichkeit und ein ewiges Leben die Angst vor dem Tod nicht. Ob man sich die Unsterblichkeit als eine himmlische oder eine irdische vorstellt – solange man am Leben hängt, tröstet sie nicht über den Tod hinweg, schreibt Simone de Beauvoir (1908 – 1986) in ihrem Buch „ein sanfter Tod“ (une mort très doux), in dem sie sich mit dem Sterben ihrer Mutter auseinandersetzt.
Schopenhauer begründet diese Angst vor dem Sterben und dem Tod bzw. die unverbrüchliche Anhänglichkeit der Menschen an das Leben damit, dass das gesamte Wesen des Menschen an sich selbst schon Wille zum Leben sei. Mit anderen Worten, wir sind auf eine Zukunft orientiert, und der Tod nimmt uns diese Zukunft.
Die Hypothese vom existentiellenTod stellt die Frage nach der Selbstdeutung und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz und personalen Identität. So wird der Begriff des existentiellen Todes eine sinnvermittelnde Idee, er wird Ausdruck eines ganz persönlichen Sinn- und Identitätskonzeptes vom Leben. Verstehe ich mein Leben in der menschlichen Gemeinschaft nur als Sinninsel in einem Meer von Sinnleere, dann herrscht jenseits des Todes das Nichts. Der darin enthaltene Sinnlosigkeitsverdacht, die materialistische Vorstellung vom Leben als zeitlicher Sinninsel inmitten der Sinnlosigkeit des Todes erzeugt das Missverständnis, dass nur Dauerhaftes wertvoll, bzw. dass nur der Besitz (z.B. von Leben) sinnvoll sei.
Denis Diderot (1713 – 1784) bringt diese Einstellung in seinem Artikel Unsterblichkeit (immortalité) in der Großen Enzyklopädie (Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers) auf den Punkt:
Es ist dieses Leben, das wir im Gedächtnis der Menschen erlangen.
Dieses Gefühl, das uns manchmal zu den größten Taten anleitet,
ist das stärkste Zeichen, das uns mit der Achtung uns ähnlicher verbindet.
Wir hören in uns selbst, wie sie uns eines Tages preisen werden,
und wir opfern uns auf.
Wir opfern unser Leben,
wir hören auf zu existieren, um in ihrer Erinnerung zu leben.
Wenn die Unsterblichkeit in diesem Sinn ein Trugbild ist, so ist sie ein Trugbild großer Seelen.
Diese Seelen, die die Unsterblichkeit so sehr erfassen,
müssen in gleichem Maße die Talente erfassen,
Talente, ohne welche diese vergeblich Malerei, Bildhauerei, Architektur, Geschichte und Poesie verheißen.
(L’immortalité se prend encore pour cette espèce de vie, que nous acquérons dans la mémoire des hommes; ce sentiment qui nous porte quelquefois aux plus grandes actions, est la marque la plus forte du prix que nous attachons à l’estime de nos semblables. Nous entendons en nous-mêmes l’éloge qu’ils feront un jour de nous, & nous nous immolons. Nous sacrifions notre vie, nous cessons d’exister réellement, pour vivre en leur souvenir. Si l’immortalité considérée sous cet aspect est une chimère; c’est la chimère des grandes âmes. Ces âmes qui prisent tant l’immortalité, doivent priser en même proportion les talents, sans lesquels elles se la promettraient en vain; la Peinture, la Sculpture, l’Architecture, l’Histoire & la Poésie.)
Diderot hat mit dieser Ansicht ohne Zweifel Recht, denn sie entspricht der Einstellung vieler Menschen. Er streicht heraus, dass Menschen sich für das Ziel, etwas Bleibendes zu hinterlassen, sogar aufopfern. Obwohl wir im Grunde Angst vor dem Tod, dem Verlust des Lebens, haben, sind wir dennoch bereit, unser Leben zu opfern, um genau dadurch Unsterblichkeit zu erlangen. Sein Ansatz ist, wenn ich etwas Großes, Unvergängliches schaffe, dann wird von mir etwas in dieser Welt bleiben. Ich würde Diderot jedoch jetzt gerne fragen, ob denn das Erlebnis der Liebe, der Duft einer Rose allein deshalb sinn- und wertlos sind, weil sie vergänglich sind? Wird eine Freundschaft, die durch den Tod des Freundes endet, deshalb weniger wert? Es geht eben nicht nur um große Taten und bleibende Werte.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der besten Welt leben, die wir haben, denn eine andere ist uns wahrscheinlich nicht gegeben. Wenn ich davon ausgehe, dass dieses mein konkretes Leben, das einzige ist, das ich habe oder das ich leben kann, so werde ich mit dieser Welt und meinem Leben sorgsamer umgehen, als jemand, der – immer noch – auf eine bessere Welt, ein besseres Leben im Jenseits hoffen kann oder im Sinne einer Wiedergeburt so etwas wie eine zweite Chance bekommt. Ich will mich nicht durch das Schielen auf ein besseres Jenseits um den Eigenwert meines Lebens betrügen. Erst der Tod macht das Leben wertvoll. Carl Sagan (1934 –1996): Ich würde gerne daran glauben,dass ich nach meinem Tod weiterlebe, dass manches von meinem Denken, Fühlen,meiner Erinnerung weiterbesteht. Aber so sehr ich das auch glauben möchte und trotz der alten und weltweiten Traditionen, die ein Leben nach dem Tod verheißen, so weiß ich keinen Grund, warum das mehr als ein Wunschdenken sein soll. (I would love to believe that when I die I will liveagain, that some thinking, feeling remembering part of me will continue. But much as I want to believe thatand despite the ancient and worldwide cultural traditions that assert anafterlife, I know of nothing to suggest that it is more than wishful thinking.)
Ich erfahre mich selbst als sinnleeres Wesen in einer sinnleeren Welt, denn wollte ich hinter dem, was ich um mich rings herum erlebe einen Plan, eine Zielrichtung, einen Sinn erkennen, so würde ich nur einen bösen, boshaften Sinn finden. Da ist es wohl vernünftiger von Sinnleere zu sprechen. Es liegt allein an mir, ob ich diese Sinnleere, die ich in meiner emotionalen Bewertung eher als Sinnlosigkeit erlebe, als Chance begreife, mich zum Meister meines Lebens zu machen und meinem Leben hier in dieser Welt einen Sinn zu geben oder ob ich an der Sinnleere verzweifle, die Singer-Songwriter KT Tunstall, (geboren 1975): …and I must be my own master or a minimal disaster will be the final death of me… Michael Schmidt Salomon (geboren 1967) schreibt in seinem Buch „Manifest des evolutionären Humanismus, Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“, (Alibri-Verlag Aschaffenburg 2006): Gerade die Akzeptanz der tiefen metaphysischen Sinnlosigkeit unserer Existenz schafft den Freiraum zur individuellen Sinnstiftung. In einem „an sich“ sinnlosen Universum genießt der Mensch das Privileg, den Sinn des Lebens aus seinem Leben selbst zu schöpfen. Ich verstehe mich als ein Mensch, der sein Handeln selbst verantworten muss, der sich nicht von Gott gehalten und nicht vom Bösen getrieben weiß; der sich deshalb gezwungen sieht, die Einübung in die Kunst des rechten Lebens, des rechten Liebens und des rechten Sterbens (Vitezslav Gardavsky, 1923 – 1978, Gott ist nicht ganz tot. Betrachtungen eines Marxisten über Bibel, Religion und Atheismus, München 1968) aus sich heraus und um seiner selbst willen zu wagen.
Im Buch „der Mythos von Sisyphos“ (Le Mythe de Sisyphe) von Albert Camus (1913 – 1960) kennzeichnet die Gleichgültigkeit (l’indifférence) gegenüber seinem Schicksal den Helden des Absurden, dessen ganzes Dasein im Aufbegehren gegen dieses Absurde wurzelt: das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich damit nicht einverstanden erklärt (l’absurde n’a de sens que dans la mesure où l’on n’y consent pas). Für Camus ist es absurd, unablässig dort einen Sinn zu suchen, wo es keinen gibt und dies auch noch im vollen Bewusstsein eben dieser Vergeblichkeit zu tun. Sich also über die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten keine Illusionen zu machen und trotz dieser Einsicht nicht aufzugeben, bedeutet, sein Leben und personale Identität gegen den Tod zu gewinnen. So lässt sich ein begrenztes, in seinem Sinn sich darauf auch beschränkendes Leben führen; noch einmal Camus: es gibt kein Schicksal, das nicht durch Verachtung überwunden werden kann (Il n’est pas de destin qui ne se surmonte par le mépris). Bei Camus löst der Held des Absurden die Diskrepanz zwischen Leben und Tod, zwischen Lebensanspruch und Erfüllung, nur in der Rebellion gegen eben dieses Absurde. Der Schrecken des Todes beruht für viele Menschen weniger auf der Vorstellung des Nicht-Seins, als auf der Angst falsch gelebt zu haben ...möge der Maurer, wenn die letzte Stunde, die Stunde der Wahrheit, gekommen ist, auf gute Arbeit und ein erfülltes Leben zurückblicken können… (Ritual der Erhebung, GLvÖ).
Die Angst vor dem Tod ist nämlich auch die Angst, sich selbst zu verlieren. Die Angst vor dem Tod, dem „Nicht mehr Sein“, ist auch die Angst davor, manches versäumt zu haben, auf seiner Wanderung zur Vollkommenheit noch nicht weit genug gekommen zu sein. Besonders groß wird diese Angst – so scheint mir – wenn ich mich an gesellschaftlichen Konventionen orientiere oder mein Selbst nur über meine gesellschaftliche Funktion (kollektive Identität) und/oder materiellen Besitz definiere. Mein Ziel muss es sein, eine personale Identität und damit Selbstwertgefühl zu entwickeln, soweit zu kommen, dass mein Sosein keiner weiteren Begründung bedarf. Dann erlebe ich mich selbst als wertvoll. Das Gefühl, dass etwas auch ohne Begründung wertvoll ist, nennen wir Liebe. Ein Selbst, das sich wertvoll findet, liebt sich also. Der Tod, der dieses Selbst bedroht, ermöglicht ihm die Liebe zu sich selbst und verleiht der Existenz somit erst wahren Wert und Sinn. So schreibt Br... Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) an seinen Vater, den Br... Leopold Mozart (1719 – 1787): Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen bekannt gemacht, dass sein Bild allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen. – ich lege mich nie zu Bett, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht (so Jung als ich bin) den anderen Tag nicht mehr seyn werde – und es wird doch kein Mensch, von allen die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgang mürrisch oder traurig wäre – und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen jedem meiner Mitmenschen.
Es ist möglich, über den Tod als Phänomen zu sprechen, als Bevölkerungsstatistiker, der die steigende Lebenserwartung in einzelnen Ländern berechnet, als Epidemiologe, der sich mit der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit von Krankenheiten auseinandersetzt, als Versicherungsmathematiker, der die Beitragsjahre für eine Pension bis zum Tod berechnet. Dann ist der Tod ein statistisches, ein naturwissenschaftliches oder wie immer sonst geartetes Phänomen. Dieses Phänomen Tod ist dem Einzelnen genauso wie der Gesellschaft vertraut, bleibt aber gleichzeitig fremd und ist scheinbar ohne jedes Geheimnis, weil der persönliche Bezug fehlt.
Erst wenn Sterben und Tod in der persönlichen Umgebung, bei Freunden, Eltern, Kindern oder Partnern geschieht, erhält der Tod ein Gesicht. Er tritt aus der unpersönlichen Dritten Person in die Zweite Person, er wird zum DU, zum persönlichen Gegenüber. Der Tod von Angehörigen wird zur persönlichen Tragödie des einzelnen Menschen. Die Antwort darauf kann – neben Verdrängen – eine rationale, philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod sein
Die Philosophie des Todes bleibt jedoch so lange Theorie und blutleer als der Tod das Individuum nicht unmittelbar betrifft. Erst wenn das Tod nicht mehr Objekt der Auseinandersetzung ist, sondern selbst als Subjekt den Menschen als Objekt trifft ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Zwischen …gelassen seiner stets gegenwärtig sein… (Ritual der Erhebung, GLvÖ) und zu wissen, diesen Schritt bald selbst tun zu müssen, liegen immer noch Welten.
Bedenken wir also den Tod von außen, dann obliegen diese Gedanken der Rationalität. Bedenken wir ihn von innen, dann ist er ein Mysterium (Vladimir Jankélévitch, 1903 – 1985, Kann man den Tod denken?).
Abstract
Ausgehend von einem Satz von Michel de Montaigne, philosophieren heißt Sterben lernen, und von einem Satz von Baruch de Spinoza, der freie Mensch denkt über nichts weniger als über den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod sondern über das Leben, entwickelt der Autor seine materialistisch, existentialistische Sicht des Todes und es Lebens. Er unterscheidet zwischen empirischen und existentiellen Tod. Die Auseinandersetzung mit seinem existentiellen Tod kann der Anlass zu einer Sinngebung im Leben werden. Dennoch hilft alles rationale Philosophieren nichts, wenn der Tod zum Subjekt wird und den Menschen als Objekt trifft.
Literatur
- Ariès Philippe, die Geschichte desTodes, dtv 1982
- Gehring Petra, Theorien des Todes zurEinführung, Junius Verlag 2010
- Jankélévitch Vladimir, der Tod,Suhrkamp 2005
- Lacina Katharina, Tod in Grundbegriffe der europäischen Geistesgeschichte herausgegeben von Konrad Paul Liessmann,Facultas 2009
- Ritual der Erhebung, Großloge von Österreich der Alten, Freien und Angenommenen Maurer, 2011
- Tugendhat Ernst, über den Tod,Suhrkamp 2006
- Wittwer Héctor, Philosophie des Todes, Grundwissen Philosophie, Reclam 2009