Die Dunkle Kammer hat eine wesentliche Bedeutung im Initiationsritual der FM. Sie ist der erste Ort, an dem der Suchende mit den Symbolen der FM in Kontakt tritt. Meine Herren, Sie haben soeben den ersten Schritt in eine Welt getan, die Ihnen vielleicht fremdartig vorkommen wird. Es ist die Welt der Symbole.
Im Englischen heißt die Dunkle Kammer schlicht „room“, im Französischen wird sie „Chambre des Réflexions“ genannt, was wir im Deutschen auch als Kammer des stillen Nachdenkens kennen.
Seit dem Beginn der Freimaurerei im 18. Jahrhundert ist es üblich, diesen Raum mit mehr oder weniger Schrecken erregenden Gegenständen auszustatten; die Einrichtungsgegenstände variieren von Obödienz zu Obödienz. Übereinstimmend ist sie schwarz ausgemalt und mit einem Tisch oder Schreibpult, Sesseln für die Suchenden sowie einem Totenschädel ausgestattet.
Die Dunkle Kammer steht als Symbol für das Element Erde, für die Mutter Erde. Damit steht sie aber auch für den Anfang und das Ende unseres Lebens, Was immer Sie hier und heute sehen, hören und erfahren werden, hat symbolische Bedeutung. Auch dieser dunkle Raum, in dem Sie sich nun befinden ist ein solches Symbol, für die Finsternis schlechthin, für das Dunkel an sich, für Unwissenheit und sogar für den Tod, aus dem neues Leben entsteht. Unter dem Gesichtspunkt der Mutter Erde ist die Dunkle Kammer aber auch Ausgangspunkt für eine Wiedergeburt, aus der Tiefe der Erde, dem Mutterschoss, zum Licht. Der Suchende muss die Dunkle Kammer betreten, um seinem alten Leben zu sterben. Dieser symbolische Tod ist notwendig, um als Kind des Lichts neu geboren zu werden.
Diese Kammer ist vergleichbar mit dem „Athanor“, dem Ofen des Alchemisten, ein Gefäß, worin die Prima Materia durch intensive Hitze bearbeitet wird. Im Athanor geschieht die Calcinatio der Materie. Dort wird sie einer solchen Hitze ausgesetzt, dass jede Verunreinigung verbrennt. Sich selbst überlassen, eingeschlossen im geheimen Laboratorium seiner eigenen Persönlichkeit muss sich der Suchende zunächst nach „Innen“ wenden, um sich mit der Vergänglichkeit allen Irdischen auseinander zu setzen. Ich bitte Sie, meine Herren, sich in der Wartezeit, die wir Ihnen auferlegen, zu entspannen.
Der zweite Name der Dunklen Kammer, Kammer des stillen Nachdenkens deutet auf diesen Zweck der Kammer hin als einem Ort der Meditation. Von der lärmenden Außenwelt losgelöst soll der Suchende hier zum Nachdenken gebracht werden. Er soll sich in sich selbst vertiefen und hinabsteigen in die Tiefen der eigenen Seele. Symbolisch gesprochen soll der Suchende dabei bis ins Innerste hinabsteigen, wo ihn kein Strahl des trügerischen Scheines profanen Erscheinungswelt mehr erreicht. Diese Meditation bezweckt, den Suchenden auf sich selbst zurückzuführen. Ich bitte Sie, diese Zeit schweigend zu verbringen.
Auf dem Pult in der Dunklen Kammer findet der Suchende Sulfur, Merkur und Sal. Indem sich Merkur und Sulfur im Innersten der Erde vereinigen, entstehen nach alchemistischer Tradition die Metalle, die sich weiterentwickeln und so langsam zu Gold werden. Genauso soll der Suchende in der dunklen Kammer wiedergeboren werden und sich in einem initiierten Leben wandeln.
Der Sulfur ist als ein Bild der expansiven Kraft anzusehen, als individuelle Initiative, als Wille. Ihm steht der Merkur gegenüber als das, was von außen dem Subjekt zugeht, oder als die Rezeptivität schlechthin. Diese beiden antagonistischen Kräfte gleichen sich im Sal, dem Prinzip der Kristallisation, aus. Sal bedeutet den unveränderlichen Teil des Wesens, der dort entsteht, wo die Kräfte des Sulfur und des Merkur aufeinander treffen. Der Sulfur steht für das innere Licht des Mikrokosmos, der Merkur dagegen für das äußere Licht des Makrokosmos, während der Sal den Bereich des intensivsten Lichts (des Großen Lichts) darstellt, in dem diese beiden widerstreitenden Kräfte zusammenkommen und kondensieren.
An der Wand der Dunklen Kammer begegnet dem Suchenden der geheimnisvolle Spruch: VITRIOL, Visita interiora Terrae Rectificando invenies Occultum Lapidem, besuche das Innere der Erde und durch Rektifizieren (durch wiederholte Destillation), wirst du den philosophischen Stein finden. Im finstersten Zentrum findet die Wandlung statt.
Neben Sulfur, Merkur und Sal stehen eine brennende Kerze, eine Sanduhr/Stundenglas, ein Schädel und vor dem Suchenden. Die Kerze ist ein Zeichen der Vergänglichkeit, denn sie wird immer kleiner je länger sie brennt, bis sie schließlich erlischt. Sie erinnert uns an die eigene begrenzte Zeit bis zum Tod. Die gleiche Bedeutung kommt dem Stundenglas zu. Auch hier verrinnt der Sand stetig, bis die Zeit abgelaufen ist. Der Totenschädel soll an die eigene Sterblichkeit erinnern. Auch der, der sich für groß und mächtig hält, wird einst im Grabe verrotten. Ein paar armselige Knochen werden übrig bleiben, aber auch diese werden schließlich zu Staub verfallen.
Den Gedanken an den eigenen Tod greift auch der Brauch auf, den wir in französischen Logen finden, den Kandidaten sein geistiges Testament verfassen zu lassen. Bei uns ist es Brauch, dem Kandidaten Fragen vorzulegen, die seine Einstellung zur Welt und den Mitmenschen wiederspiegeln sollen. Über die Antworten auf unsere Fragen und damit über den Suchenden wird dann symbolisch in offener Loge ein letztes Mal abgestimmt.
Der schreckliche Bruder, Frère terrible, der den Platz des VM einnimmt kommt aus der französischen Maurerei des 18. Jahrhunderts; in Deutschland ist er unbekannt. In unserer Loge soll er den Suchenden nicht nur an die Bedeutung seiner Entscheidung erinnern, sondern er bewacht auch den Zugang zur Loge, zur FM. Meinen Platz wird der Schreckliche Bruder einnehmen. Sein Schwert mag Sie an die Schärfe des Entschlusses mahnen, den Sie nun fassen.
Bevor der VM dem Suchenden die Binde um die Auen verbindet, muss dieser seine Metalle ablegen. Das erinnert uns daran, dass auch heute noch in manchen Logen die Bekleidung des Suchenden verändert wird (…nicht nackt noch bekleidet…). früher musste der Suchende den Degen ablegen und heute soll er sein Geld ablegen, denn weltliche Macht und Einfluss zählen in unseren Logen nicht.
Das Verbinden der Augen soll dem Suchenden die Dunkelheit körperlich spüren und erfahren lassen und so seine Sehnsucht nach dem Licht noch mehr wecken. Gleichzeitig wird er auch mit einer neuen Erfahrung konfrontiert, der Brüderlichkeit, der er bedingungslos vertrauen muss, weil er als Blinder auf Zeit sich sonst nicht bewegen könnte. Sie brauchen sich über das Kommende keine Sorgen zu machen. Was Sie erwartet, sind Wohlwollen, Freundschaft und Brüderlichkeit.
Der Suchende beginnt in der Dunklen Kammer sein Opus Magnum, das ihn vom Lehrling über den Gesellen zum Meister führen soll. Blind, ohne Metalle, nur durch eine sichere Hand geführt, wird er nun im Tempel mit der Prüfung der vier Elemente konfrontiert werden. Nackt, blind und ohne jegliche Waffe wird er stufenweise von der grobstofflichen Welt zu immer feinstofflicheren Elementen geführt. Beginnend mit der grobstofflichen Erde gelangt der Suchende durch Wasser, Feuer und Luft zum subtilen Geist.