Werkmaurerei

Die Freimaurer leiten ihre Namen von den alten Verbrüderungen der mittelalterlichen Bau­hütten her.

Es sind gewaltige Leistungen, die unsere Brüder Werkmaurer da im Hochmittelalter vollbracht haben. Zwischen 1050 und 1350 werden in Frankreich 80 Kathedralen, 500 große Kirchen und mehr als 10 000 Pfarrkirchen errichtet. Dabei werden in diesen 300 Jahren mehrere Millionen Tonnen Steine verbaut, mehr als in Ägypten zu irgend­einem Zeitpunkt; die Cheopspyramide hat einen Rauminhalt von 2.500.000m3. Auf rund 200 Einwohner kommt eine Kirche oder Kapelle; in Norwich, Lincoln und York, Städte, die zu dieser Zeit zwischen 5.000 und 10.000 Einwohner haben, gibt es jeweils 50, 49 bzw. 41 Kirchen oder Kapellen. Die Kathedrale von Amiens mit ihrer Grund­fläche von 7.700m2 konnte die damalige Stadtbevölkerung von etwa 10000 Menschen auf­nehmen. Auf heutige Verhältnisse übertragen würde dies eine Stadt mit rund 1 Million Einwohnern und einem Stadion für 1 Million Besucher bedeuten; das größte Stadion der Welt hat jedoch nur 240.000 Plätze. Im Chor der Kathedrale von Beauvais könnte ein Bauherr ein Gebäude mit 14 Stockwerken errichten, bevor er das 48m hohe Gewölbe erreicht. Die Turmhöhe der Kathedrale von Chartres, 105m, entspricht einem Gebäude von 30 Stockwerken, die von Strassburg mit 142m einem mit 40; und der Südturm unseres Wiener Stephansdoms mit 136m entspricht einem Wolken­kratzer von 39 Stockwerken.

Alle Historiker, die sich mit mittelalterlicher Baukunst beschäftigen, unterscheiden üblicher Weise zwischen romanischen und gotischen Bauten. Die Wende wird für die Mitte des 12. Jahrhunderts angesetzt. Allerdings gibt es durchaus gotische Kirchen ohne Strebebogen und die berühmten Spitzbogengewölbe haben nicht die Bedeutung, die ihnen meistens zugemessen wird. Der Unterschied liegt weniger im Baustil als in einer Vielzahl von kleinen technischen Neuerungen findiger Hand­werker und Architekten. Nebeneinander gibt es nicht romanische oder gotische Bauleute sondern Kathedralenbauer, die neues schaffen und solche, die sklavisch an der althergebrachten Bauweise fest halten. Von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zum Ende des 13. Jahrhunderts werden eine Reihe von bautechnischen Neuerungen eingeführt, z.B. die Schubkarre, während in den folgenden 250 Jahren das technische Grundgerüst der vergangenen 250 Jahre einfach weiter verwendet wird.

Die Zeit von etwa 1050 bis zum Ende des 13. Jahrhunderts ist für das christliche Europa eine Zeit des Aufbruchs und der Blüte. Es ist ein Zeitalter voll von Schaffenskraft und Erneuerung. In dieser Zeit leben und wirken eine Reihe der her­ausragendsten Persönlichkeiten mittelalterlicher, abendländischer Geschichte; Bernhard von Clairvaux, Abaelard, Franz von Assisi, Thomas von Aquin, Roger Bacon. Es ist die Zeit des vierten bis achten Kreuzzugs, Jerusalem ist von Saladin bereits wieder erobert, Kreuzfahrer haben Konstantinopel eingenommen, Kriege gegen Katharer und Albigenser, Belagerung und Fall von Montségur, Reconquista. Friedrich II. ist Deutscher Kaiser, Richard Löwenherz stirbt, ihm folgt Johann ohne Land. Der Templerorden ist noch auf dem Höhepunkt seiner Macht. Wolfram von Eschenbach schreibt seinen Parsifal und den Titurel, Robert Boron den Heiligen Gral. Universitäten entstehen. Die Wasserkraft wird genützt, Holzbrücken werden durch Steinbrücken ersetzt. Das Feudalsystem funktioniert, Wohlstand herrscht, in einer Zeit ohne Missernten wächst die Bevölkerung.

Wer waren nun die Bauleute, die Brüder und auch Schwestern, die ihr Leben damit verbrachten, Steine zu behauen, Dreck zu schaufeln und Mörtel anzurühren? Wie hoch war ihr Lohn, welche Werkzeuge verwendeten sie, wie hievten sie die schweren Steine und das Bauholz auf das Dach, woher kam das Geld für die Bau­werke?

Es ist die Gläubigkeit der mittelalterlichen Stadtmenschen, die den Anstoß zum Bau der Kathedralen gibt. Die Eitelkeit des Bürgertums der damaligen Zeit verbunden mit dem allgemeinen Wohlstand dieser Jahre macht den Bau der Kathedralen erst möglich. Eine besondere Rolle in der Spiritualität dieser Zeit spielt der Marienkult, der besonders von Bernhard von Clairvaux und dem Zisterzienserorden gefördert wird. Gleichzeitig ist die Geschichte der Kathedralenbauer eng mit dem Aufblühen der freien Städte, des freien Handels und einem freien Bürgertum verknüpft. So sind die gewaltigen Kathedralen inmitten der Städte Zeugen eines selbstbewussten Bürgertums. Die Gesellschaft des Mittelalters mit dem neu aufgekommenen Bürgertum wird von einem „euphorischen“ Weltrekordfieber ergriffen; so werden die Kirchenschiffe immer höher und höher, 1163 ND de Paris 32,8m, 1194 ND de Chartres 36,55m, 1212 ND de Reims 37,95m, 1221 ND de Amiens 42,3m. Tragisches Beispiel für dieses Streben nach immer neuen Rekorden ist der Chor der Kathedrale von Beauvais mit 42m, der 1284 einstürzt.

Allerdings stößt der gigantomane Kathedralenbau auch auf heftigen Widerstand. 1180 stuft Pierre de Chantre, Domherr der Kathedrale von Paris, diese Leidenschaft als Epidemie ein; er schreibt: „Es ist eine Sünde Kirchen zu bauen, wie es momentan ge­schieht… Die Klosterbauten und Kathedralen werden zurzeit mit dem Wucher des Geizes, der List und der Lüge und mit den Betrügereien der Prediger gebaut.“

Hat in der Antike das Volk keinen Zugang zum Haus Gottes, zum Allerheiligsten, so sind im Mittelalter alle Gläubigen aufgefordert, sich an den Baukosten zu beteiligen und die Gebäude werden auch deshalb so groß geplant und ausgeführt, um dem Volk den Zugang zum Altarraum zu ermöglichen. Die Zuständigkeit des Bischofs und des Kapitels endet mit dem Altarraum, Mittelschiff und Seitenschiffe gehören dem gläubigen Volk. Dort wird gegessen und geschlafen, geredet und nicht ge­flüstert, Tiere werden mitgebracht, man versammelt sich zu Besprechungen, die Gemeindevertreter kommen zusammen, Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten kommen zusammen und der Bürger trifft nicht nur auf den Bauern aus der Umgebung, sondern kann durchaus so seinem Bischof oder dem Landesherren be­gegnen.

Besonders die zahlreichen, religiösen Feste sind es, die im Mittelalter die Beziehung zu Gott prägen und die leidenschaftliche Begeisterung für den Kirchenbau auslösen. Auch wenn ein Arbeitstag deutlich länger als heute dauert (von Morgengrauen bis Sonnenuntergang), so räumt die mittelalterliche Kirche ihren Bauern und Arbeitern viele Erholungstage ein. Zu den 52 Sonntagen kommen noch etwa 30 religiöse Feier­tage hinzu. Die Arbeit wird am frühen Samstagnachmittag beendet, vor religiösen Festen endet die Arbeit ebenso zur Mitte des Vortags. Zählt man diese halben freien Tage zu den freien Tagen dazu, so kann man überschlagen, dass die Menschen im Mittelalter durchschnittlich nicht mehr als vier bis fünf Tage arbeiten. Arbeitsfreie Tage werden nicht bezahlt; die exakte Buchführung des Pariser Augustinerklosters aus dem Jahr 1299 belegt dies.

2. Augustwoche

Meister Robert für 5 Tage 10 Sous

3 Maurer, jeder 5 Tage, 29 Sous, 2 Deniers

5 Gehilfen, jeder 5 Tage 4 Sous, 7 Deniers

4. Augustwoche

Meister Robert für 4 Tage 8 Sous

3 Steinmetzen, jeder 4 Tage zu 2 Sous pro Tag, 24 Sous

(12 Deniers = 1 Sous, 20 Sous = 1 Livre)

Die arbeitende Bevölkerung des Mittelalters schuftet also nicht bis zum Umfallen.

Die Mitglieder der Domkapitel sind es, denen der Titel Kathedralenbauer gebührt. Die Bischöfe haben nur in Einzelfällen und dann über einen beschränkten Zeitraum den Kathedralenbau unterstützt. In der Ausarbeitung der Baupläne und in der Durchführung der Bauarbeiten kommt dem Kapitel eine Rolle zu, die ungefähr der eines leitenden Stadtplaners in der heutigen Zeit entspricht. Die Herausforderungen, denen sich diese Kleriker gegenübersehen gleichen durchaus denen, die heute bei großen Bauprojekten auftreten, Enteignungen, Ablösen, Finanzierung, individuelle Interessen treten Allgemeininteressen gegenüber. So wehren sich zwischen 1230 und 1240 die Brüder, die das Hospital von Amiens betreiben, gegen die Absicht, die Kathedrale auf Kosten ihres Hospitals zu vergrößern. Schließlich erhalten die Brüder 100 Livres über einen Zeitraum von fünf Jahren für einen Neubau, und ein vier­köpfiger Ausschuss, der die Kosten eines Umzugs schätzen soll, muss gebildet werden.

Einmal pro Jahr bestimmt das Kapitel einen „Proviseur“. Dieser Proviseur ist meistens ein Geistlicher, kann aber auch jemand von weltlichem Stand sein, der dem Kapitel verantwortlich ist. Aufgabe des Proviseur ist es, die Bücher zu führen und die Bauarbeiten zu leiten.

Über den Bau der Kathedrale von Autun ist für das Jahr 1294/95 die komplette Buchführung erhalten, die Robert Clavel, Proviseur des Kapitels der Kirche Saint – Lazare angelegt hat.

Die Einnahmen gliedern sich in 7 Gruppen

  • Besteuerung des Kapitels von Autun
  • Einnahmen durch nicht zugewiesene Erträge in der Stadt und in der Diözese Autun
  • Einnahmen aus Ablässen für die Unterstützung des Kirchenbaus
  • Einnahmen aus der Kollekte und durch die Bruderschaft Saint – Lazare auf der Pfingstsynode
  • Nebeneinkünfte; Gelder, die ursprünglich nicht vorgesehen sind, wie Erb­schaften und Vermächtnisse
  • Einnahmen aus speziell zugunsten des Baus gestifteten Opfergaben
  • Eine zusätzliche Einnahme aus Kollekten in der Kirche

In Liste der Ausgaben finden sich solche für

  • Steinbrüche zur Förderung von Steinen
  • Kalk
  • Zimmerleute, Schneiden und Transport der Rohdauben für die Gewölbe
  • Schmiede in Autun und im Steinbruch
  • Latten, Nägel, Eisenbeschläge
  • Den Dachdeckermeister
  • Transport von als Wasserspeier bezeichneten Steinen
  • Miete einer Wohnung des Meisters
  • Kleidung des Meisters
  • Dachdeckerhämmer
  • Den Sattler und für Sättel, Kummete
  • Heu und das Anspannen des Fuhrwerks
  • Beschlagen der Pferde
  • Miete der Fuhrwerke
  • Kauf eines Pferdes
  • Kerzen

Neben der Versorgung der Baustelle mit Rohstoffen muss der Proviseur den Materialtransport organisieren, die Arbeiter bezahlen, die fertigen Gebäude unter­halten und dafür Sorge tragen, dass die Gottesdienste auch während der Bauarbeiten abgehalten werden. Robert Clavel schafft zum Abrechnungszeitraum ein ausge­glichenes Ergebnis. Wenn die Bauleute nicht bezahlt werden können, stellen sie die Arbeiten ein, verlassen die Stadt und arbeiten auf einer anderen Baustelle weiter. Um die Löcher zu stopfen, sind die Kanoniker durchaus erfindungsreich. Sie führen neue Kollekten ein, Geistliche, die zu spät zum Gottesdienst kommen, müssen ein Bußgeld bezahlen, Gräber innerhalb der Kathedralen werden verkauft, Ablässe werden gegen Geld angeboten, und Reliquien werden auf Tournee geschickt.

Auf so einer mittelalterlichen Kathedralenbaustelle sind, wie aus den Aufstellungen der Ausgaben zu erkennen ist, die unterschiedlichsten Berufe vertreten. Nicht alle je­doch sind gelernte Handwerker, jede Berufsgruppe beschäftigt Hilfsarbeiter. Diese rekrutieren sich aus entlaufenen Leibeigenen, die es schaffen ein Jahr und einen Tag in einer Stadt zu leben („Stadtluft macht frei“) oder sie sind Bauersöhne aus kinder­reichen Familien. Die zahlreichen Baustellen einer Stadt bieten gute Arbeitsmöglich­keiten. Ihre Aufgaben reichen vom Transport von Stabholz für die Zimmerleute, über das Ausheben der Baugrube bis zum Transport von Ziegeln und Steinen auf einen Turm. Ihnen bieten sich zahlreiche Aufstiegsmöglichkeiten, kraft ihrer Arbeit und ihrer Intelligenz können sie Facharbeiter werden, ein Kapital ansparen und selbständig werden oder sogar bis zum Architekten aufsteigen. Alle diese Arbeiter sind gleichzeitig auch Steuerzahler und die Steuerregister geben Aufschluss über Zahl und Verteilung der Arbeiter.

Im Steuerregister der Pariser Stadtverwaltung des 13. Jahrhunderts finden sich 192 Personen, die mit Stein arbeiten und sich folgendermaßen aufteilen: 104 Maurer, 12 Steinmetze, 36 Gipser, 8 Mörtelmacher, 2 Vorarbeiter, die das Zurichten der Steine leiten, 18 Steinbrecher, 7 Maurergehilfen, 3 Hauer und 2 Steinsetzer. In diesem Register finden sich mehrere Frauen, Gipserinnen, Mörtelmacherinnen und einzelne Maurerinnen, jedoch keine Frauen unter den Steinbrechern und Steinmetzen. Der Grund liegt darin, dass es sich dabei um Arbeiten handelt, die körperlich sehr an­strengend sind.

Steinbrecher, Mörtelmacher und Steinmetze gehören zum einen Zweig der Familie der Steinarbeiter; Gipser, mit Zement arbeitende Mörtelmacher und Maurer gehören zum anderen Zweig. Die Statuten des Etienne Boileau, Vorsteher der Pariser Kauf­mannsgilde verzeichnen Mitte des 13. Jahrhunderts in Paris 101 Gewerbe und sagen über die Steinarbeiter: „Mörtelmacher und Gipser sind von demselben Rang wie die Maurer und gehören zu derselben Berufsgruppe wie sie.

Die Maurer sind in erster Linie einmal Steinleger, im Englischen Setter oder Layer. Diese Ausdrücke vermitteln die Vorstellung des Legens und Einzementierens in eine Mauer. Wir kennen zahlreiche Kirchenfenster, die Maurer bei ihrer Arbeit zeigen. Meist sind die Maurer mit Maurerkelle, Setzwaage und Senkblei an einer Mauer zu sehen. Am Fuß der Mauer rühren Mörtelmacher Mörtel, Hilfsarbeiter reichen Steine oder Mörtel nach oben zu den Maurern. Im Winter wird das Steinelegen wegen der Frostgefahr eingestellt und die Maurer werden entlassen, sie verschwinden von der Baustelle und auch aus den Büchern. Nur diejenigen Maurer, die am geschicktesten im Behauen von Steinen sind, werden in der Werkstatt – der Loge – am Fuß des Ge­bäudes weiter beschäftigt.

Diese wechselnde Zahl an Arbeitern am Bau finden wir in den erhaltenen Büchern dokumentiert, so zum Beispiel in den Büchern der Westminister Abbey von 1253. In der Woche vom 14. – 20. Juli werden 215 Hilfsarbeiter eingestellt, in der darauf folgenden Woche werden 65 und in der nächsten Woche noch einmal 10 entlassen. Mit Wintereinbruch sinkt die Zahl der Hilfsarbeiter schlagartig ab; in der Woche vom 10. – 16. November auf 30. Genauso verhält es sich mit den Maurern; nach 33 Maurern am 27. Oktober sind es am 10. November nur noch 5. Insgesamt sind im Jahr 1253 beim Bau der Westminster Abbey bis zu 428 Arbeiter (Woche vom 23. – 29. Juni) beschäftigt, im Schnitt über das ganze Jahr arbeiten 300 Menschen am Bau mit, davon sind etwa 50% gelernte Facharbeiter.

Wenn wir an die Kathedralen denken, so denken wir meist an unsere Brüder Werk­maurer und vergessen dabei gerne auf den Beitrag, den die Steinbrecher, die Arbeiter in den Steinbrüchen, für die Entstehung eines solchen Gebäudes leisten. In den Steinbrüchen macht sich der Mensch des Mittelalters mit dem Stein vertraut, denn es gibt keine antike Überlieferung, die über die Vorzüge und die Mängel sowie die Be­handlung dieses Rohstoffs Informationen geben kann.

Die Steinbrecher arbeiten unter schlechten materiellen Bedingungen, sie leiden unter der Feuchtigkeit vieler Steinbrüche und ziehen sich eine Staublunge zu. Ihr Lohn entspricht dem eines Hilfsarbeiters am Bau. Ihre Bedeutung ist besonders in der ersten Phase eines Bauprojekts hoch, wenn Tausende von Kubikmetern Stein für die Grundmauern gebrochen werden.

Sie arbeiten in Achtergruppen unter der Leitung eines Steinbrechermeisters. Beim Bau der Zisterzienserabtei Vale Royal in Cheshire werden in drei Jahren 1278 – 1281 35448 Karren Steine aus dem Steinbruch zur 8 Kilometer entfernten Baustelle transportiert. Um diese mehr als 35000 Tonnen Steine (eine Fuhre entspricht 1 Tonne) in dieser Zeit zum Bauplatz zu schaffen, muss während der Arbeitszeit jede Viertel­stunde ein Karren den Steinbruch verlassen.

Um die überaus hohen Transportkosten zu verringern, werden Steinmetze in den Steinbruch gesandt, die die Steine an Ort und Stelle vierkantig in passender Größe behauen. Die Maße für einen solchen Stein sind nach dem Ort oder der Baustelle normiert. Die Bezahlung erfolgt sowohl nach Zeit, pro Tag oder pro Woche genauso wie nach Stück. Warum aber ein Arbeiter nach Stücklohn und ein anderer Arbeiter nach Zeit bezahlt wird, ist nicht eindeutig.

Auf der Grundlage der Erkennungszeichen, die die Stückarbeiter in die Steine gravieren, kann man feststellen, dass Stückarbeit im 12. Jahrhundert häufiger ist als in den darauf folgenden, dass Stückarbeit im Elsass, südlich der Loire und in der Provence häufiger ist als im Rest von Frankreich, dass Stückarbeit auf kleinen Bau­stellen verbreiteter ist als auf Großbaustellen wie in Chartres oder Amiens, wo man kaum Steinmetzzeichen finden kann. Jeder Steinmetz, der nach Stücklohn arbeitet, hat sein eigenes Zeichen, das er in irgend eine Fläche seines Stein graviert, damit am Ende einer Woche seine Arbeit eindeutig identifiziert werden kann. Bei diesen Steinmetzzeichen handelt es sich um geometrische Figuren, Kreuze oder Buchstaben.

Von diesen Steinmetzzeichen müssen die Positionsmarkierungen unterschieden werden. Das Verwenden von Positionsmarkierungen geht bereits auf die Römer zu­rück, wir finden solche Zeichen zum Beispiel am Pont du Gard (FRonte.Sinistra.II uä) Bei schwierigen Bauabschnitten gibt der Vorarbeiter den Steinmetzen genaue An­weisungen, wie sie die Steine zu markieren hätten, damit die Maurer die so markierten Steine beim Einmauern richtig zusammenfügen könnten. Ebenso werden Positionsmarkierungen verwendet, wenn eine Statue in die Mauer eingefügt werden soll.

Das Leben der Steinmetze spielt sich in der Bauhütte – Loge – ab. Wir finden die Bauhütte auf zeitgenössischen Darstellungen am Fuß des entstehenden Bauwerks. Am Morgen holen die Bauleute dort ihr Werkzeug ab, nehmen ihre Mahlzeiten in der Hütte ein, halten an heißen Tagen ihren Mittagsschlaf. Bei Schlechtwetter und im Winter wird in den Bauhütten gearbeitet. Die Nächte werden jedoch nicht in der Bauhütte verbracht. Die Bauhütten sind nicht nur ein Arbeits- und Erholungsort sondern gleichzeitig auch eine Art Treffpunkt, an dem alle wichtigen Fragen die Arbeit betreffend besprochen werden. Nach und nach muss das Kapitel das Leben in den Logen regeln, und so entstehen die ersten bekannten Bauhüttenregeln; die älteste bekannte Regel wurde 1352 vom Kapitel von York aufgestellt.

Auf Grund der lateinischen Ausdrücke, die im Mittelalter für diejenigen Arbeiter verwendet werden, die Steine behauen ist eine Unterscheidung zwischen jenen, die einfache Bausteine herstellen und solchen, die Rippengewölbe, Rosen und Statuen anfertigen, nicht möglich. Das mag uns heute befremden, weil für uns ein großer Unterschied zwischen all denen, die mechanische Arbeit verrichten und denen, die „mit ihrer Seele“ die großartigen Statuen der Kathedralen schaffen, besteht. Diese Unter­scheidung ist den Menschen des Mittelalters jedoch völlig fremd, sie kommt erst mit der Renaissance auf. Es sind die Intellektuellen der Renaissance, die die persönlichen Verdienste der Bildhauer und Maler, der Künstler, herausstreichen. Erst in der Renaissance wird unsere Vorstellung von Kunst geprägt. Die Denker des Mittelalters hingegen äußern sich in ihren Werken fast nie zu Fragen der Ästhetik; wenn sie sich mit Kunst beschäftigen, so tun sie das aus theologischer oder philosophischer Sicht. Auch fragt der mittelalterliche Mensch nicht nach dem Schöpfer der einzelnen Skulptur, der jedoch keineswegs so anonym ist, wie wir heute meist glauben. Berechtigter Stolz erfüllt diese Bildhauer von einfacher Herkunft, die durch ihr Handwerk mit der Welt des Geistes und der Bildung in Kontakt kommen, und sie zögern nicht, ihren Namen in das Baustück einzugravieren, so am Tympanon von Autun „Gislebertus me fecit“ oder in der Kathedrale von Rouen auf einem Schluss­stein „Durandus me fecit“.

Im Englischen wird bis zu einem gewissen Grad zwischen den Maurern, die grobe Arbeit verrichten und denen, die feinere Arbeiten ausführen unterschieden. Mit „hard hewers“ werden diejenigen bezeichnet, die einen besonders harten Stein aus der Grafschaft Kent bearbeiten; ihnen gegenüber stehen die freestone masons, die einen Kalkstein feinster Qualität bearbeiten können, der sich hervorragend für Bild­hauerei eignet. Zusätzlich unterscheiden sie sich die freestone masons von den roughstone masons, die einen Stein nur grob bearbeiten können. Nach und nach wird aus freestone mason freemason, was sich ausschließlich auf die Qualität des Steins be­zieht und nichts mit Abgabenfreiheit zu tun hat. Als die spekulative Frei­maurerei im 18. Jahrhundert aus England nach Frankreich kommt, wird freemason selbst­verständlich mit franc-maçon übersetzt, einem Wort das im Mittelalter unbe­kannt ist. 1351 taucht in London ein englisch-französisches Mischwort auf, maître macon de franche peer, was dem lateinischen Ausdrücken sculptores lapidum liberorum oder magister lathomus liberarum petrarum entspricht, was etwa Meister des freien Steins bedeutet.

Oft sind an einem Bauwerk die Skulpturen aus einem ganz anderen Stein als die Wände. Genauso bearbeiten die Bildhauer auch Blöcke wenn sie bereits in die Wand eingemauert sind. So verschmelzen Bildhauerarbeit und Architektur. Die Figuren am Königsportal von Chartres sind Ausdruck dieser engen Zusammenarbeit zwischen Bildhauer und Architekt. Je komplexer die Arbeiten werden desto eher arbeiten die Bildhauer in der Bauhütte und nicht mehr direkt an der Säule. Sie sind wie besessen davon, überall an den Wänden Statuen unterzubringen, die Kirchen werden förmlich zugedeckt. Beim Einmauern der 1200 Skulpturen von ND de Chartres gibt es einige Verwechslungen, in Reims muss man die rund 3000 Skulpturen nummerieren, und in Tournai lassen sich Bildhauer nieder, die Arbeiten nach Auftrag versenden.

An bautechnischem Wissen steht den Kathedralenbauern Vitruvs „De Architectura“ zur Verfügung. Ansonsten lernen sie durch Erfahrung. So gibt Vitruv zum Beispiel kein Verfahren zur Berechnung eines Fundaments an. Auch wenn die Kathedralen­bauer durchaus Kenntnisse in Algebra, Trigonometrie und Geometrie haben, so leitet sich ihr Wissen hauptsächlich aus, Praxis, Erfahrung und Beobachten ab. Ein gutes Beispiel für dieses Wissen ist das Skizzenbuch des Villard de Honnecourt.

Villard de Honnecourt ist ein Architekt des 13. Jahrhunderts aus dem kleinen Ort Honnecourt bei Cambrai in der Picardie. Sein Skizzenbuch besteht aus 33 beidseitig mit Konstruktionszeichnungen und Skizzen versehenen Pergamentseiten. Villard stellt sich in seinem Buch folgender Maßen vor: „Villard de Honnecourt begrüßt euch und bittet all diejenigen, die mit den Behelfen, welche man in diesem Buch findet, arbeiten werden, für seine Seele zu beten und sich seiner zu erinnern. Denn in diesem Buch kann man guten rat finden über die große Kunst der Maurerei und die Konstruktionen des Zimmer­handwerks; und ihr werdet die Kunst des Zeichnens darin finden, die Grundzüge, so wie die Disziplin der Geometrie sie lehrt.

Das Skizzenbuch lässt sich in folgende Bereiche gliedern:

  • Mechanik
  • Praktische Geometrie und Trigonometrie
  • Zimmerhandwerk
  • Architekturzeichnungen
  • Verzierungszeichnungen
  • Figürliche Darstellungen
  • Objekte der Kirchenausstattung
  • Themen, die über das Spezialgebiet des Architekten und Zeichners hinaus­gehen

Wie die meisten Bauleute seiner Zeit ist auch Villard viel gereist. Er ist in seiner weiteren Heimat Frankreich unterwegs, skizziert die Westrose von Chartres und das Labyrinth, er zeichnet die Türme der Kathedrale von Laon. Wir finden ihn in der Schweiz, wo er die die Rose der Kathedrale von Lausanne zeichnet. Auf seiner Wanderschaft durchquert er Deutschland und gelangt schließlich nach Ungarn und arbeitet beim Bau der Kathedrale St. Elisabeth in Kosice mit.

Auf seiner Reise fertigt er Skizzen von allem, was ihn interessiert, an; er zeichnet Insekten, Vögel, Hasen und Igel, Haustiere aber auch Löwen und Bären sowie einen Drachen. Sein besonderes Augenmerk gilt der Darstellung des menschlichen Körpers, dem Faltenwurf der Kleidung, der Bewegung der Gliedmaßen, auch zeichnet er Akte. Bekannt sind seine Zeichnungen, die auf Dreiecken basieren. Zum einen sind diese Schemata einfach und praktisch, zum anderen helfen sie, die richtigen Proportionen der Figuren darzustellen.

Als Ingenieur ist er an technischen Erfindungen interessiert. Villard entwickelt ein Hebeverfahren, bei dem eine Achse mit Schraubenwindung an einer Haspel gedreht wird. Er wagt sich auch an schwierige Aufgaben, wie das Schneiden von Holz unter Wasser. Auch zum Perpetuum Mobile macht er sich Gedanken: „Gar manchen Tag haben Meister darüber beratschlagt, wie man ein Rad machen könne. Das sich von selber dreht. Hier ist eines, das man aus einer ungeraden Zahl von Hämmern oder mit Quecksilber machen kann.

Villards Skizzenbuch gibt uns auch Aufschluss, wie es mit dem Geheimnis der Maurerei tatsächlich gewesen ist. Auf einer Tafel zeigt er, wie eine Fiale aus einem Grundriss heraus konstruiert werden muss. Dieses Blatt scheint für ihn keine be­sondere Bedeutung zu haben, denn er versieht es mit keinen weiteren Erläuterungen. Mehr als 200 Jahre später, 1486, schreibt in Regensburg ein Architekt Roritzer das „Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit“. Auch er zeigt, wie eine Fiale aus dem Grund­riss konstruiert werden muss, fügt jedoch hinzu, er offenbare damit das Geheimnis des Bauens. Mit Geheimnis hat Roritzer wohl recht, denn in der Regensburger Bau­hüttenordnung von 1459 heißt es ausdrücklich: „Item es soll auch kein werckhman oder meister noch ballierer oder gsellen niemands, wie der genant sye, der nit unnsers handwerckhs ist, uß kheinem außzuge unnderwisenn uß dem grundt zue nemenn.“

Wenn etwas im 15. Jahrhundert ein Geheimnis ist, so heißt das nicht zwangsläufig, dass es auch im 13. Jahrhundert eines war. Auch Passagen aus dem Regius Poem (1390) und dem Cook (1430) Manuskript lassen auf Geheimnisse schließen. Beide bilden das, was als Constitutions der Freimaurer bezeichnet wird. Zur Ver­schwiegenheit heißt es im Cook: „der dritte Punkt ist, dass er die Gespräche seiner Kollegen in der Hütte (Loge), im chamber oder an irgendeinem anderen Ort, wo sich Maurer aufhalten, nicht weitererzählen darf“. Das Regius Poem wird präziser: „der dritte Punkt muss dem Lehrling eindringlich ans Herz gelegt werden. Die Ratschläge seines Meisters und seiner Brüder muss er für sich behalten und darf sie niemandem weitersagen. Festen Willens enthüllt er keinem einzigen Menschen, was in der Hütte, Loge, vorgeht, was er hört oder was er sieht. Wo auch immer er hingeht, offenbart er keinem einzigen Menschen die Gespräche, die in der hall oder im chamber stattgefunden haben. Er behält sie zu seiner Ehre unbedingt für sich. Enthüllt er sie doch, muss er fürchten, auf sich selbst Tadel zu ziehen und dem Berufsstand große Schande zu bereiten.

Auch für die Erkennungszeichen der Freimaurer finden wir Belege in der Werk­maurerei. Diese Erkennungszeichen dürften aus Schottland stammen, wo ab­weichende Bedingungen gegenüber dem Rest von Europa herrschen. In Schottland gibt es keinen freestone. Damit stehen die freestone masons in unmittelbarer Konkurrenz zu den cowans, die nur Steinmauern aufschichten zu können. Zusätzlich gibt es zu dieser Zeit in Schottland eine besondere Kategorie von Maurern, den entered apprentice. Um sich von beiden unterscheiden zu können, werden die Er­kennungszeichen eingeführt. In einem Dokument der Loge Mother Kilwinning aus 1707 finden wir den Beweis: „kein Baumeister darf einen cowan einstellen ohne das Losungswort…“.

Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts nehmen Genie und Schaffenskraft der Kathedralenbauer stark ab. Die Meinungsfreiheit, die an den neu entstandenen Universitäten hoch gehalten wird, wird eingeschränkt. Die großen Orden bauen kaum noch neue Klöster. 1337 beginnt in Frankreich der Hundertjährige Krieg und damit ist in Frankreich die Blütezeit des Kathedralenbaus beendet. Nur im deutsch­sprachigen Raum werden noch große Dome gebaut.

Die Freimaurer leiten ihren Namen von den alten Verbrüderungen der mittelalterlichen Bau­hütten her. Wenn wir unsere Brr Werkmaurer beobachten, so können wir feststellen, dass dieser Satz aus dem Aufnahmeritual im Wesentlichen tatsächlich stimmt. Die Strukturen sind die unserer Brr... Werkmaurer. Und manches, wie zum Beispiel das Behauen der Steine im Steinbruch, erinnert an Worte aus unserem Ritual: jeder Stein sei schon im Kubus behauen, sodass es nur noch der Zusammensetzung bedarf. Festzuhalten ist, dass wir in der FM keine Unterscheidung in Steinmetzen, Steinsetzer und Mörtelmacher oder Gipser mehr treffen, und doch meine ich, dass wir in den Charakteren der Brr... einer L... all diese Funktionen wiederfinden. Das Geheimnis der Werkmaurerei ist, wie ich am Beispiel der Fialenkonstruktion zu zeigen ver­suchte, wohl eher ein Konstrukt. Voraus waren uns die Geschwister Werkmaurer auf jeden Fall bei der Integration der Schwestern. Zumindest im Hochmittelalter – in der Blütezeit des Kathedralenbaus – finden wir Frauen als gleichberechtigte Mitarbeiter am Bau, während die reguläre FM Frauen bis heute die Fähigkeit abspricht, rechte Freimaurer zu sein.

Literatur

  • Bayard Jean-Pierre, la Tradition cachée des cathédrales, du symbolisme médiéval à la réalisation architectural, Editions Dangles
  • Conrad Dietrich, Mertens Klaus, Kirchenbau im Mittelalter, Bauplanung und Bau­ausführung, Edition Leipzig 2002
  • Gimpel Jean; die Kathedralenbauer, Deukalion Verlag Uwe Hils 1996
  • The Medieval Sketchbook of Villard de Honnecourt, Dover Publication, Inc., Mineola New York 2006

Abstract

Zwischen 1050 und 1350 werden in Frankreich 80 Kathedralen, 500 große Kirchen und mehr als 10 000Pfarrkirchen errichtet. Dabei werden in diesen 300 Jahren mehrere Millionen Tonnen Steine verbaut, mehr als in Ägypten zu irgend­einem Zeitpunkt; die Cheopspyramide hat einen Rauminhalt von 2.500.000m3. Die Kathedralen sind Ausdruck des Selbstbewusstseins der freien Städte; Bauherrn sind daher auch nicht die Bischöfe sondern die Domkapitel. Beim Bau einer Kathedrale sind neben den Steinbrechern im Steinbruch, den Steinmetzen die den Bruchstein zum Kubus behauen, Steinleger, Zimmerleute, Fuhrleute, Schmiede und Hilfs­arbeiter beschäftigt. Ihre Zahl schwankt nach der Jahreszeit, im Schnitt sind es rund 300 Menschen. An bautechnischem Wissen steht den Kathedralenbauern „De Architectura“ von Vitruv zur Verfügung. Ansonsten lernen sie durch Beobachten und Erfahrung. Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts nehmen Genie und Schaffens­kraft der Kathedralenbauer stark ab. Besonders Frankreich leidet unter dem Hundertjährigen Krieg. Nur noch in Deutschland werden Dome gebaut und die hohe Zeit der Werkmaurer geht zu Ende.

Liberté Chérie, eine Loge im KZ

Das Lied „die Moorsoldaten“ ist ein Lied, das 1933 von Häftlingen des KZ Börgermoor im Emsland getextet und komponiert worden ist. Das Emsland ist eine Region an der Grenze zu den Niederlanden im Nordwesten des heutigen Bundeslands Nordrhein-Westfalen und im Westen des heutigen Bundeslands Niedersachsen. Typisch für das Emsland sind die ausgedehnten Moore. Im Emsland wurden während der Zeit Nazideutschlands insgesamt 15 Konzentrationslager errichtet; die KZ Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum wurden bereits 1933 errichtet und waren in verschiedenen Funktionen bis 1945 in Betrieb. Ein bekannter Häftling im KZ Esterwegen war der Journalist, Schriftsteller Pazifist und Friedensnobelpreisträger, unser Br... Carl von Ossietzky.

Der besondere Zweck der Emslandlager bestand im Einsatz der Häftlinge bei der Urbarmachung der sich über etwa 50.000 ha erstreckenden Emsländischen Moore. Die Arbeit war dabei bewusst ausschließlich mit Spaten und sonstigen einfachsten Hilfsmitteln zu verrichten. Die Bewachung der Lager erfolgte durch Angehörige der SA und SS, Morde und Misshandlungen gehörten zum Lageralltag.

1934 wurde die bereits für Dachau entwickelte Lagerordnung eingeführt. Dort heißt es unter anderem: …Es bleibt jedem Schutzhäftling überlassen, darüber nachzudenken, warum er ins Konzentrationslager gekommen ist. Hier wird ihm die Gelegenheit geboten, seine innere Einstellung gegen Volk und Vaterland zu Gunsten einer Volksgemeinschaft auf nationalsozialistischer Grundlage zu ändern, oder, wenn er es für wertvoller hält, für die Judeninternationale eines Marx oder Lenin zu sterben!… Toleranz bedeutet Schwäche! Aus dieser Erkenntnis wird dort rücksichtslos zugegriffen werden, wo es im Interesse des Vaterlandes notwendig erscheint. Den politisierenden Hetzern und intellektuellen Wühlern – gleich welcher Richtung – sei gesagt, hütet euch, man wird euch sonst nach den Hälsen greifen und euch nach eurem eigenen Rezept zum Schweigen bringen!…

Mit der Neuordnung des KZ-Systems wurden in der Zeit von 1934 bis 1936 die KZ-Lager im Emsland aufgelöst. Das letzte Lager war Esterwegen, das sogenannte Lager VII, in dem bis zuletzt zahlreiche Politiker und Intellektuelle inhaftiert waren. Die 15 Emslandlager wurden in der Folge als Straflager und ab Kriegsbeginn als Kriegsgefangenenlager weitergeführt.

Die Situation der Inhaftierten verbesserte sich dadurch nicht. Misshandlung, Folter, Hinrichtungen, extremer Ernährungsmangel bei gleichzeitig schwerem Arbeitseinsatz, katastrophale hygienische Bedingungen, sowie das Vorenthalten jeder medizinischen Betreuung forderten weiterhin ihren Tribut. Eine im Dokumentationszentrum Emslandlager hinterlegte Aussage eines Lagerwächters dazu: …es gibt keine Kranken, es gibt nur Gesunde oder Tote! Sie haben kein Recht, krank zu sein; als Kranke sind sie der Gesellschaft nicht nützlich. Diese nicht produktiven Menschen müssen von selbst gesund werden oder verschwinden. Man müsste sagen: Sollen sie krepieren!…

Von 1934 bis 1945 wurden insgesamt über 66.000 Strafgefangene in die nördlichen Emslandlager eingeliefert, überwiegend Kriminelle, selbst nach heutigem Rechtsverständnis, aber auch politisch Andersdenkende, rassische oder religiöse Minderheiten, kriegsrechtlich verurteilte, Homosexuelle und andere sogenannte Volksschädlinge. In den südlichen Lagern waren bis 1945 mindestens 70.000 Kriegsgefangene inhaftiert. Während die Wehrmacht die nicht-sowjetischen Gefangenen mehr oder weniger entsprechend den Regeln des Völkerrechts behandelte, wurden die russischen Soldaten faktisch ermordet, indem man ihre Versorgung bis weit unter das Minimum reduzierte, sie verhungern, erfrieren oder an Krankheiten sterben ließ. Den Gräberlisten ist zu entnehmen, dass auf den sechs Kriegsgefangenenfriedhöfen vor Ort bis zu 26.000 sowjetische Soldaten begraben liegen.

Ab Mai 1943 wurden mehr als 2000 Widerstandskämpfer, Mitglieder der Résistance aus Belgien, Nordfrankreich, und den Niederlanden in das KZ Esterwegen deportiert. Sie wurden als Nacht und Nebel (NN) Gefangene bezeichnet. Der später sogenannte Nacht-und-Nebel-Erlass war ein Führererlass Adolfs Hitlers während des zweiten Weltkriegs, verordnet am 7. Dezember 1941 als geheime Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten.

Entsprechend diesem Führererlass wurden rund 7.000 des Widerstands verdächtige Personen aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen nach Deutschland verschleppt, dort heimlich abgeurteilt oder bei erwiesener Unschuld in Haft behalten, ohne dass die Angehörigen irgendwelche Auskünfte erhielten. Ihr spurloses Verschwinden sollte der Abschreckung dienen. Die Kontaktsperre wurde ausnahmslos durchgesetzt. Die Angehörigen erhielten weder Nachricht über eine Hinrichtung noch einen Sterbefall eines NN-Häftlings, Abschiedsbriefe und Testamente wurden zurückgehalten. Auch in den Lagern war die Behandlung der NN-Häftlinge anders als die der sonstigen Häftlinge. Mussten diese außerhalb des Lagers Zwangsarbeit leisten, (in Esterwegen Arbeit im Moor) so durften jene ihre Baracken den ganzen Tag nicht verlassen. Sie mussten zum Beispiel in ihrer Baracke Altmetall sortieren.

Unter diesen Widerstandskämpfern waren belgische Freimaurer, die nach und nach in der Baracke 6 des KZ Esterwegen aufeinandertrafen.

Der ersten Transporte von NN-Häftlingen erreichten das KZ Esterwegen im Mai 1943. Bis November 1943 waren die 7 Meister, die für eine Logengründung nötig sind, vollständig. Es waren:

Dr. Franz Rochat, geboren am 10. März 1908 in Saint-Gilles. Er wurde in die Loge Les Amis Philantropes im Or... Brüssel während seines Studiums an der Freien Universität Brüssel aufgenommen, Apotheker und Direktor eines bedeutenden pharmazeutischen Labors. Seine Untergrundarbeit begann am 1. Oktober 1941. Er war Mitarbeiter bei der Untergrundzeitschrift La Voix des Belges (Stimme der Belgier). Franz Rochat wurde im April 1944 ins Zuchthaus Untermaßfeld verlegt und starb dort am 6. April 1945.

Jean Sugg, geboren am 8. September 1897 in Gent. Er war deutschschweizerischer Herkunft. Auch er war Bruder der Loge Les Amis Philantropes, wo er seinen Freund Franz Rochat kennenlernte. Gemeinsam arbeiteten sie an der Verbreitung der Untergrundpresse, vor allem La Voie des Belges und La Libre Belgique. Er unterstützte abgestürzte Bomberflieger und versorgte sich der Zwangsarbeit entziehende Belgier mit Geld und Verpflegungsmarken. Am 21. April 1942 verhaftet, lautete die Anklage auf Spionage und Feindbegünstigung. Gemeinsam mit Rochat traf er am 21. Mai 1943 im KZ Esterwegen ein. 1944 wurde er ins KZ Buchenwald verlegt, wo er im Februar 1945 verstarb.

Paul Hanson, geboren am 25. Juli 1889 in Lüttich Friedensrichter im Kanton Louveigné-Grivegnée südlich von Lüttich wurde am 20. April 1942 von den Deutschen festgenommen und bald darauf vor Gericht gestellt. Zwei Monate vorher hatte er in einem Prozess der 1940 gegründeten CNAA (Nationale Vereinigung für Landwirtschaft und Ernährung), einer Kollaborationsvereinigung für soziale und wirtschaftliche Herrschaft der Nationalsozialisten, die Legalität abgesprochen und sie mit einer Geldbuße belegt. Das Urteil gegen Hanson wurde am 13. März 1942 in Louveigné verkündet und hatte einen gewaltigen Nachhall. Paul Hanson wurde zunächst in Saint-Léonard, dann in Aachen und Bochum und schließlich im KZ Esterwegen inhaftiert.

Paul Hanson hielt im Lager Esterwegen trotz des Ausgangsverbotes wiederholt heimlich Vorträge für die Gefangenen der verschiedenen Baracken. Als die Stadt Essen, in die Hanson verlegt worden war, am 26. März 1944 von den Alliierten bombardiert wurde, starb der Inhaftierte in den Trümmern des Gefängnisses.

Am 13. März 1947 wurde zu Ehren des Richters Hanson im Gerichtshof von Louveigné eine mit einem Akazienzweig eingerahmte Gedenkstele mit den wichtigsten Passagen aus seiner Urteilsverkündung vom 13. März 1942 errichtet.

Dr. phil. Amédée Miclotte, Doktor der Philosophie und Literatur, Studienrat der Oberschule in Forest/Vorst, wurde am 20. Dezember 1902 in La Hamaide geboren und gehörte mit Luc Somerhausen zum SRA (Service de Renseignement et Action), einem konspirativen Vorgänger des Staatssicherheitsdienstes. Er war Bruder der Loge Les Vrais Amis de l‘Union et du Progrès Réunis im Or... Brüssel. Am 29. Dezember 1942 wurde er als Spion verhaftet und in Saint-Gilles, später in Essen inhaftiert. Amédée Miclotte wurde von Esterwegen ins Konzentrationslager Groß-Rosen gebracht und am 8. Februar 1945 als vermisst gemeldet. Er wurde zuletzt im Lager-Krankensaal gesehen.

Jean De Schrijver, Oberst in der belgischen Armee und ab 1940 Kabinettschef des Verteidigungsministeriums, wurde am 23. August 1893 in Alost geboren. Er war Bruder der Loge La Liberté in Gent. Am 2. September 1943 wurde er wegen Spionage und Waffenbesitzes festgenommen und saß in Löwen, Breendonk und Saint-Gilles ein. Oberst Jean De Schijver starb im Februar 1945 im Zuchthaus Groß-Strelitz.

Henri Story, Industrieller und Schöffe von Gent, wurde am 27. November 1897 in dieser Stadt geboren, er war Bruder der Loge Le Septentrion in Gent. Er gehörte mehreren Widerstandsgruppen an: dem „Service Socrate“, dem „Service Zéro“ und dem „Service Luc“. Über ihn kam der Kontakt der Unabhängigkeitsfront mit London zustande. Er wurde am 22. Oktober 1943 ins Gefängnis von Gent eingeliefert und später nach Essen überführt. Henri Story wurde über Esterwegen nach Groß-Strelitz verbracht und starb am 5. Dezember 1944 im Konzentrationslager Groß-Rosen.

Luc Somerhausen, geboren am 26. August 1903 in Hoeylaert, war Journalist. Er diente im Widerstand beim Allgemeinen Nachrichtendienst, dem SRA. Somerhausen wurde am 28. Mai 1943 in Brüssel und in Saint-Gilles, später in Essen inhaftiert. Er gehörte der Loge Action et Solidarité in Brüssel an und war Mitglied des Großorient von Belgien in der Funktion eines stellvertretenden Sekretärs. Da er die erforderlichen Abläufe am besten kannte, wurde er zur treibenden Kraft bei der Gründung der Loge Liberté Chérie

Fernand Erauw, diplomierter Verwaltungswissenschaftler des Instituts Cooremans und Beisitzer am Rechnungshof, Reserveoffizier bei den Grenadieren und Mitglied der Geheimarmee, wurde am 29. Januar 1914 in Wemmel geboren. Die Geheimarmee bestand aus aktiven Soldaten und Reservisten im Untergrund. Sie wurde von der belgischen Regierung in London als legal anerkannt und führte für die Alliierten verdeckte militärische Operationen durch.

Fernand Erauw wurde am 4. August 1942 festgenommen, entging als Offizier den Folterungen durch die Deutschen und fand sich im Jahr 1943 nach einer Odyssee durch verschiedene belgische und deutsche Gefängnisse schließlich in Esterwegen wieder.

Diese sieben Brüder gründen nun, sobald die 7 Meister im November 1943 beisammen sind, in der Baracke 6 eine Loge mit dem Namen Liberté Chérie. Der Name bezieht sich entweder auf die 6. Strophe der Marseillaise (Freiheit, heißgeliebte Freiheit, kämpfe zusammen mit deinen Verteidigern[1]) oder auf die letzte Strophe des Börgermoorlieds, welches die Häftlinge auf Französisch in dieser Version sangen: Doch eines tags in unserem Leben wird es wieder Frühling sein, Freiheit, heißgeliebte Freiheit, du bist wieder mein[2]. In ihrer ersten Logenarbeit wählen sie Paul Hanson zum Meister vom Stuhl, die Brüder Somerhausen und Dee Schrijver zum 1. und 2. Aufseher, Bruder Rochat wird Sekretär und Bruder Miclot Redner. Fernand Erauw nehmen sie als Bruder Lehrling auf. Vor seiner Aufnahme gehörte dieser bereits zum maurerischen Gesprächskreis in Baracke 6.

Es gibt allerdings auch einen Bericht eines Lagerüberlebenden (Franz Bridoux) welcher meint, dass eigentlich Guy Hannecart, Bruder der Loge Les Amis Philantropes, ein Rechtsanwalt und wie Franz Rochat Mitarbeiter bei La Voie des Belges, sowie Joseph Degeldre, Arzt und Bruder der Loge Travail im Or...Verviers, Mitbegründer von Liberté Chérie gewesen seien und dass De Schrijver und Story erst danach dazu gestoßen seien. In den meisten vorliegenden Dokumenten werden jedenfalls die zuvor genannten sieben Brüder als Gründungsmeister geführt. Auch hätten diese sieben Meister gemeinsam mit dem Lehrling die Logenarbeit weitergeführt.

Für ihre Logenarbeit versammelten sich die Brüder in der Baracke 6 um einen Tisch, der sonst zum Sortieren von Patronen verwendet wurde. Dabei standen jeweils ebenfalls inhaftierte katholische Priester Wache, damit die Freimaurer ihre Versammlungen abhalten konnten; umgekehrt wachten die Brüder der Loge über die Priester, wenn diese heimlich ihre heilige Messe feierten.

Luc Somerhausen schildert Fernand Erauws Aufnahme zum Freimaurer wie folgt: …eine ebenso einfache wie geheime Zeremonie, die darin bestand, den Profanen Fernand Erauw aufzunehmen, der vorgeschlagen worden war, sich den Gründern anzuschließen und der dem Vorschlag zugestimmt hatte. Diese Zeremonie, zu deren Geheimhaltung man die Gemeinschaft der Priester um Hilfe gebeten hatte, die wiederum von uns Beistand bei ihren Gebeten erhielten, fand um einen der Essenstische herum nach einem sehr stark vereinfachten Ritual statt, dessen einzelne Bestandteile dem Neuaufgenommenen aber erklärt wurden und der fortan an der Arbeit der Loge teilnahm.

Das Logenleben der acht Gefangenen gestaltete sich begreiflicherweise schwierig. Mehr als hundert Gefangene waren in Baracke 6 fast rund um die Uhr eingesperrt und durften diese nur für einen halbstündigen Spaziergang pro Tag unter Aufsicht verlassen. Tagsüber musste eine Hälfte des Lagers Patronen und Radioteile sortieren, die andere Hälfte leistete Arbeitsdienst in der Umgebung. Zusätzlich war die 1934 installierte Disziplinar- und Strafordnung in Kraft, die vorsah, dass wer im Lager zum Zwecke der Aufwiegelung politisierte, aufreizende Reden hielte, sich mit anderen zu diesem Zwecke zusammenfände, Cliquen bildete oder herumtriebe, als Aufwiegler gehängt würde. Die Ernährung war unzureichend, denn es wird berichtet, dass manche Gefangene im Durchschnitt jeden Monat bis zu 4 Kilo Körpergewicht verloren hätten.

Nach der ersten rituellen Versammlung mit Aufnahme des neuen Bruders Fernand Erauw wurden weitere Arbeiten thematisch vorbereitet und abgehalten. Eine Arbeit war dem Symbol des Allmächtigen Baumeisters aller Welten gewidmet, eine andere der Zukunft Belgiens, und eine weitere der Stellung der Frau in der Freimaurerei. Heute im Nachhinein lässt sich nicht sagen, wie viele Arbeiten tatsächlich noch stattgefunden haben. Die Loge stellte zu Beginn des Jahres 1944 ihre maurerische Arbeit ein, weil die meisten Brüder, wie berichtet, in andere Lager weiter überstellt wurden. Die Loge Liberté Chérie bestand damit nur etwas mehr als drei Monate. Von ihren Mitgliedern überlebten nur Luc Somerhausen und Fernand Erauw die Haft. Beide begegneten einander 1944 im KZ Oranienburg-Sachsenhausen wieder und galten von da an als unzertrennlich. Sie standen selbst die von Heinrich Himmler im Frühjahr 1945 veranlassten Todesmärsche durch. Fernand Erauw, 1,84m groß und vor der Haft mit der Statur eines Athleten ausgestattet, wog am 21. Mai 1945 im Saint-Pierre-Krankenhaus in Brüssel gerade noch 32 kg.

Im August 1945 sandte Luc Somerhausen dem Großmeister des Großorients Belgiens einen ausführlichen Bericht, in dem er die Geschichte der Loge Liberté Chérie nachzeichnete. Dieser Bericht, für den Somerhausen eine Empfangsbestätigung zuging, gilt heute als verschollen. Der Großorient von Belgien führt die Loge Liberté Chérie jedoch bis heute in der Liste seiner Logen unter der Nummer 29bis – Liberté Chérie, Esterwegen, gegründet 1943. Damit ist die Loge Liberté Chérie gerecht und vollkommen.

Luc Somerhausen verstarb 1982 mit 79 Jahren. Der letzte lebende Zeuge Fernand Erauw starb 83-jährig im Jahr 1997.

2004 wurde in der Gedenkstätte der Emslandlager ein Denkmal für die Loge Liberté Chérie in Anwesenheit von sieben Großmeistern und Großvertretern sowie von Hunderten von Freimaurer-Schwestern und Brüdern am 13. November 2004 in einer maurerischen Gedenkfeier enthüllt,. Es zeigt einen grob behauenen, kubischen, halb mannshohen Granitstein umgeben von einem aufgebogenem Baustahlgitter, das Stacheldraht symbolisiert. Der Stein steht auf einem musivischen Pflaster.

Die Loge Liberté Chérie galt lange als die einzige Freimaurerloge in einem NS-Straflager. Dies scheint aber heute so nicht mehr haltbar. etwa zur selben Zeit wurde die Loge „L´Obstinée“ im deutschen Kriegsgefangenenlager Oflag[3] XD in Fischbeck (Hamburg) durch den Anwalt und Freimaurer Jean Rey aus Lüttich gegründet. Dieser bekleidete in Folge mehrfach Ministerposten in der belgischen Regierung und war von 1967 bis 1970 Präsident der Europäischen Kommission, der sogenannten Rey-Kommission. Von einer weiteren Loge Les Frères Captifs d‘Allach[4] ist außer dem Namen und dem Hinweis, sie hätte sich in einem Gefangenenlager befunden, so gut wie nichts überliefert.

Zum Schluss noch einige persönliche Gedanken.

Diese Brr... haben, so wie wir auch, bei ihrer Aufnahme gelobt, den Gesetzen des Landes treu und gehorsam zu sein. Formal haben sie ihren Eid mehrfach gebrochen. Ich unterstelle, dass sie sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht haben. So wie ich ihre Kurzbiografien lese, waren sie keine Heißsporne und haben vermutlich gerade deswegen nach sorgfältigem Nachdenken und aus tiefer, innerer Überzeugung gehandelt. Möglicherweise haben sie auch nicht immer gewaltfrei Widerstand geleistet.

Wie sehr sich diese Brüder Regeln verbunden fühlen, ist auch daran gut zu erkennen, dass sie bei der Gründung ihrer L die Regeln zur Logengründung, die Konstitution des Grand Orient de Belgique, einhalten. Die Lichteinbringung findet erst statt, als sie 7 Meister sind, und sie nützen das Detailwissen von Luc Somerhausen als Deputierten Großsekretär.

Meine Fragen sind:

  • Wie soll ich mich als Freimaurer verhalten, wenn plötzlich menschenverachtende Gesetze Gültigkeit erlangen, nachdem sich diese für einen aufmerksamen Beobachter heimlich, still und leise angekündigt haben?
  • Gibt es so etwas wie eine Grenze der Toleranz und wo liegt diese?
  • Wie lange gilt das Gelöbnis des Freimaurers, den Gesetzen des Landes, in dem man lebt, treu und gehorsam zu sein?
  • Wann beginnt der Widerstand, wann muss Widerstand beginnen?
  • Was ist höher einzuschätzen, das freimaurerische Gelöbnis oder die Gesetzesbefolgung?
  • Was sind die Konsequenzen daraus?
  • Verlasse ich das Land oder gehe in den Untergrund und kämpfe für eine bessere Entwicklung?

Die Antwort auf diese Fragen scheint mir schwer. Ich halte es nicht für zulässig, einen Eid wie unseren, nach Belieben umzuinterpretieren. Allzu leicht könnte das als Rosinenpicken interpretiert werden. Aber, wir haben uns bei unserer Aufnahme gleichzeitig auch auf die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte verpflichtet, welche es allerdings Anfang der 40-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in dieser Form noch nicht gab. Die Deklaration der Menschenrechte sollte über den Landesgesetzen stehen, bzw. die Landesgesetze nicht den Menschenrechten widersprechen…

Was ich mich auch frage, ist, was bewegt Menschen, Brüder, in dieser menschenfeindlichen Umgebung, so etwas „Nutzloses“ zu tun, wie eine Loge zu gründen? Zu überleben, nicht zu verhungern war wichtig. Wäre es da nicht klüger gewesen, still zu halten, auf Tauchstation zu gehen, nicht aufzufallen. Die rituellen Arbeiten waren ein Risiko; wenn sie erwischt worden wären, hätte das wahrscheinlich den Tod bedeutet.

Eine Bauhütte zu gründen, bedeutet, einen virtuellen Raum zu schaffen, in welchem sie eine Gegenwelt der Ordnung zur sie umgebenden Welt des Chaos bauen. Im Ritual finden diese Brüder den nötigen Rückhalt, um ihre Identität und Werte als Menschen zu bewahren, die von ihren Peinigern systematisch zerstört und eliminiert werden sollen. In einer Atmosphäre der Ohnmacht generieren sie in einem schöpferischen Akt ein Umfeld, welches sie das Bewusstsein, wer und was sie eigentlich waren, und wofür sie einstanden, aufrechterhalten ließ. Im Angesicht des Todes setzen sie dabei ein Zeichen ihrer individuellen Souveränität. In einer Zeit der finstersten Dunkelheit wird das Licht durch ihre eigene schöpferische Kraft entzündet. Sie werden selbst zur leuchtenden Flamme. Die Gründung dieser Loge wurde erst im Nachhinein durch die Großloge sanktioniert, die Lichteinbringung erfolgte durch die Brüder selbst. Dieses Licht geben sie sofort an einen neu Aufgenommenen weiter.

Es mögen einfache Rituale gewesen sein, die diese Brüder vollzogen, denn sie mussten auf die Requisiten für die übliche Symbolik verzichten. Sie hatten nichts außer einem Tisch als Tapis, vergleichbar mit dem „to draw a lodge“ der frühen Freimaurerei, und drei Kerzen als Lichter. Aber sie erinnern uns auf ihre schlichte Weise, dass das eigentliche Symbol, welches einen Tempel ausmacht, eben wir Menschen sind.

Quellen

  • Bridoux Franz, Liberté Chérie, In Nacht und Nebel, Gründung einer Freimaurerloge im KZ Esterwegen, Salier Verlag, 1. Auflage 2015
  • R.W., Liberté Cherie (sic), BS 2010, aufgelegt in der DL Telos, April 2021
285, 59, 209, 1, 1, 476

[1] Liberté, liberté chérie, combats avec tes défenseurs!

[2] Mais un jour dans notre vie le printemps refleurirs, liberté, liberté chérie, je dirai tu es à moi

[3] Oflag, Offizierslager, waren Deutsche Kriegsgefangenenlager, in denen ausschließlich Offiziere festgehalten wurden.

[4] Allach, Stadtteil von München

Hat die Freimaurerei eine Zukunft? – Eine Provokation

Die Freimaurerei, so behaupte ich, steckt in einer Krise. Es ist Zeit zu fragen, was von der „königlichen Kunst“, die einst angetreten war, für die geistige Emanzipation des Menschen gegen alle auferlegten Schranken einer traditionalen und dogmatischen Weltinterpretation zu kämpfen, geblieben ist. Dem Menschen eine menschlichere Welt zu errichten, war das Ziel. Für die Geistesströmungen, die wir heute als Aufklärung und (Neo-) Humanismus bezeichnen, war die historische Freimaurerei innovativer Funke und Katalysator zugleich.

Die Logen, die einst den freiesten und kreativsten Köpfen ihrer Zeit, auf die wir uns ja auch heute noch immer wieder gern berufen, geistigen Unterschlupf und brüderlichen Halt gewährten, existieren bis heute, doch scheint sich deren geistige Struktur und soziale Funktion grundlegend geändert zu haben. Die tradierten Formen unseres Zusammenlebens, etwa die Abgeschlossenheit gegenüber der profanen Welt, werden mehr und mehr zum Selbstzweck, und die Form unserer rituellen Arbeit zeigt Tendenzen der Erstarrung.

Der Grund für mein Nachdenken darüber, ob die Freimaurerei eine Zukunft habe, liegt darin, dass sich die Rahmenbedingungen der Welt, in welcher sich die Freimaurerei bewähren muss, in den letzten Jahren fundamental geändert haben. Stichworte sind

  • die Auflösung fester internationaler Strukturen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems;
  • die Globalisierung mit ihren vielen ungelösten Problemen;
  • die konfliktträchtigen Mischungen von multikultureller Gesellschaft, religiösen Fundamentalismen und internationalem Terrorismus;
  • das „Flüchtlingsproblem“ mit all seinen nationalen und internationalen Auswirkungen;
  • die demographischen Veränderungen (ungünstige Altersstruktur, Desintegration der Generationen);
  • die Veränderungen der Arbeitswelt und das Problem der „Sozialen Gerechtigkeit“
  • die Gefährdung der Stabilität von Umweltbedingungen (drohende Klimakatastrophe)
  • das nicht definierte Verhältnis zu den maurerischen Schwestern und den sogenannten irrregulären Obödienzen

Nur allzu gerne verweisen wir auf die Leistungen unserer vorausgegangenen Brüder, um uns hinter diesen zu verstecken und uns nicht den brennenden Fragen der Gegenwart stellen zu müssen. Wir verweisen gerne darauf, dass Tagespolitik in unseren Logen entsprechend den Alten Pflichten keinen Platz hat. Das Ritual sei unveränderbar und stehe über allem. Gerade aber das Ritual verweist auf den konkreten Bezug zu unserer Realität (…wie hier durch das Wort, im Leben durch die Tat…). Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit sind und waren seit ihrer Proklamation keine empirischen Fakten, sondern eine Geschichte, die die Gesellschaft über sich selbst erzählt. Unser vollendeter Br... Portisch hat in seiner Festzeichnung anlässlich 300 Jahre Freimaurerei in der Hofburg diesen uralten Appell der Freimaurerei für unsere heutige Zeit mit Demokratie – Menschenrechte – Solidarität übersetzt. Auch heute ist die politische Wirkung der Freimaurerei, der Brüder wichtig. Der F.z.a.S. hat schon 1930 in seiner „programmatische Erklärung des Reformfreimaurerbundes“ im Jahre diese Überlegung angestellt und den Brüdern ans Herz gelegt: „Zulassung der Erörterung auch politischer und religiöser Fragen im Tempel: denn ihre Ausschaltung zeugt von mangelndem Vertrauen zur freimaurerischen Idee, die ja das gesamte persönliche und gemeinschaftliche Leben durchdringen und gestalten soll; es entsteht zugleich die Gefahr einer leeren Schönrednerei ohne fruchtbringende Wirkung für den Menschheitsbau.“

Freimaurerei ist ein eigenartiges Lehrgebäude der Sittlichkeit, in Gleichnisse gehüllt und durch Sinnbilder erklärt. Sie ist eine Lebensschule, die das einzelne Mitglied durch Arbeit an seinem Innersten ermächtigen will, seinen Beitrag zur Schaffung einer humanen Gesellschaft zu leisten. Die Freimaurerei orientiert sich an den Idealen der Humanität, der Toleranz und des Kosmopolitismus. Die angestrebten Ziele will der Freimaurer dadurch erreichen, dass er seine Vorhaben mit Weisheit und Umsicht plant, dass er sie konsequent und mit Stärke durchführt, und dass er insgesamt nach Schönheit und Eleganz strebt.

Die Freimaurerei hat ein mehrfaches Angebot, das dem einzelnen Bruder dabei helfen kann, sich den aktuellen Fragen der Zeit zu stellen und seine Antworten auf diese zu finden.

Auf der Basis einer in der Loge eingeübten Kultur der Mitmenschlichkeit ist Freimaurerei Pflege von Freundschaft und Geselligkeit. Die Logen der Freimaurer sind Gemeinschaften, die „gute und redliche Männer, Männer von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugungen sie sonst vertreten mögen“ (Alte Pflichten von 1723) über alle weltanschaulich-religiösen, politischen, nationalen und sozialen Grenzen hinweg verbinden wollen. Die Logen und die Menschen in ihnen wollen sich miteinander und mit anderen Menschen und Menschengruppen vernetzen, denn nur durch eine solche Vernetzung von Mensch zu Mensch können in modernen komplexen Gesellschaften mit ihrer zunehmenden Tendenz zu diffuser Anonymität und Aggressivität übersichtliche und humane Lebenswelten geschaffen und erhalten werden.

Die Geselligkeit der Logen ist ebenso traditionsreich wie komplex: freundschaftliches Miteinander, Empathie und Takt, soziales Handeln, gemeinsames Erleben und Praktizieren von Kultur, Diskurse; durch all das sollten schon die Bürger und Brüder der Aufklärungszeit Tugend und Bildung einüben und – als Vorbild für die gesamte Menschheit – zu besseren Menschen werden.

In der Tradition von Humanismus und Aufklärung sind die Logen der Freimaurer ethisch orientierte Assoziationen, in denen gemeinsam laut nachgedacht werden kann, um Wege zu Lebenssinn und Motivation zu moralischem Handeln ausfindig zu machen. Freimaurer stimmen darin überein, dass sie Werten verpflichtet sind, die sie – im Sinne eines Orientierungsrahmens – mit alten humanistisch-aufklärerischen Begriffen wie Humanität, Brüderlichkeit, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit und Friedensliebe umschreiben. Freimaurer bemühen sich darum, für diese Werte zeitgemäße Ausdrucksformen zu erarbeiten und auf dieser Grundlage an gesellschaftlichen Diskursen und moralischer Praxis auch außerhalb der Loge teilzunehmen.

Die Logen der Freimaurer bieten einen auf Symbole und Rituale gegründeten spirituellen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erfahrungsraum, in dem die Ziele und Ideen des Freimaurerbundes im Bewusstsein und im Habitus der Brüder verankert werden. Das Ritual ist keineswegs die ganze Freimaurerei, doch es ist das, was Freimaurerei von anderen Bünden mit humanitärer Einstellung unterscheidbar macht.

Das Ritual lehrt durch Symbole und rituelle Handlungen und rundet so die soziale und diskursethische Praxis der Loge durch eine die Gesamtperson des Bruders erfassende und verändernde spirituelle Dimension ab. Initiationen, performatives Sprechen und Handeln sowie mimetisches Lernen sind hierbei die wesentlichen Elemente. Das Ritual lässt die Werte des Bundes, die Beziehungen der Brüder, die Chancen für die eigene innere Entwicklung sinnlich und emotional erfahren. Das Ritual öffnet das Bewusstsein des Maurers für ein Wahrnehmen bisher verborgen gebliebener Schichten der Persönlichkeit. Dadurch vermittelt es nicht nur Denkanstöße, sondern es wird auch zum Medium der Selbsterfahrung und der Selbstentwicklung.

Durch die Zusammenfassung der drei vorgenannten Elemente in einem aufeinander abgestimmten Gesamtkonzept wird Freimaurerei zu einer Lebenskunst der Praxis, die freundschaftliches Miteinander und ethisch-moralische Daseinsorientierung durch Symbole und Rituale in der Gemeinschaft der Loge sowohl rational erfassbar als auch emotional erlebbar macht.

Freimaurerische Lebenskunst zielt darauf hin, Beziehungen herzustellen und Umgangsstile zu entwickeln:

  • Stile des Umgangs mit sich selbst wie Selbstrespekt, verbunden mit Selbsterkenntnis und Selbstkritik;
  • Stile des Umgangs mit anderen Menschen wie Mitmenschlichkeit, tolerantes Verstehen ohne Unterwerfung und Symbiose;
  • Stile des Umgangs mit den Dingen der Welt wie Verantwortung übernehmen für Gesellschaft und Umwelt;
  • Stile des Umgangs mit Transzendenz, was im Grunde genommen meint, im Hinblick auf letzte Fragen Frieden zu finden.

Die Freimaurerei geht von einem für alle Brüder als verbindlich anerkannten festen Set allgemeiner normativer Grundsätze aus, die wir unter dem Oberbegriff der Humanität zusammenfassen. Somit gibt es einen engen gemeinsamen Moralkodex, den wir als essenziell und nicht zur Disposition stehend betrachten. Das Missverständnis jedoch, mit dem wir es scheinbar zu tun haben, liegt im Unterschied von Normenbegründung und dem Bestreben, bestimmten Normen Geltung zu verschaffen. Nicht gemeinsamer Glaube ist unser Prinzip, sondern Konsens hinsichtlich bestimmter Werturteile. Die gemeinsamen Normen sind es, die uns verbinden, die Wege, auf denen wir zu ihnen gelangen, können recht unterschiedlich sein. Wir sollten uns deshalb davor hüten, einen bestimmten „Weg zur Wahrheit“ als den einzig verbindlichen vorzuschreiben. Humanität setzt die Achtung vor der Überzeugung des anderen voraus.

Freimaurerei ist keine Religion und will auch nicht als solche betrachtet werden. Religionen liefern umfassende Weltinterpretationen, die ihrer Natur nach exklusiv sind und sich wechselseitig ausschließen ein grundsätzlicher Konflikt, der auch durch noch so intensive ökumenische Bestrebungen nicht aufgehoben werden kann. Die Idee der Freimaurerei hingegen ist weitgehend universalistischer Natur. Sie versucht gar nicht erst, eine umfassende Weltinterpretation zu entwickeln. Die Freimaurerei kann ihrem Wesen nach offener sein, gerade weil ihre Konzeption und ihr Begründungsanspruch enger gefasst sind.

Was Maurer verbindet, ist eben kein einheitliches umfassendes Weltbild, sondern eine gemeinsame anthropologische Grundlage, ein Bild vom Menschen, aus dem sich konkrete ethische Handlungsanweisungen ableiten lassen. In der philosophischen Einordnung ist allerdings auch die humanistische Anthropologie ein „belief-system“, welches keineswegs „natürlich“ ist und deshalb, wie oftmals angenommen, „objektive“ Gültigkeit beanspruchen könnte.

Auch die Maurerei muss ihre ursprünglich naturrechtlich begründeten Vorstellungen der Ernüchterung philosophischer Analyse aussetzen; sie verliert dadurch nicht ihren Wert. Im Gegenteil, gerade weil das Bekenntnis zur Freimaurerei ein Werturteil darstellt und nicht einen religiös begründeten metaphysischen Wahrheitsanspruch, sind wir in der Lage, über die Grenzen der Religionen und ideologischer Dogmen hinweg für die Sache einer humaneren Welt zu argumentieren.

Das maurerische Ritual ist dabei funktional gesehen die Visualisierung bestimmter Ideen und Normen kraft traditioneller Symbolik, in der die ethische Konzeption sichtbar gemacht und im Bewusstsein des Maurers lebendig gehalten werden soll. So bieten unsere rituellen Arbeiten Anregung, sowohl die individuelle Kontemplation zu fördern als auch die Gruppenidentität durch wechselseitige Versicherung der gemeinsamen Grundsätze zu stärken. Dies aber kann nur gelingen, wenn die Formen des Rituals auf der einen Seite bestimmt genug sind, um den symbolisierten normativen Gehalt erkennbar werden zu lassen, und auf der anderen Seite offen genug, um den einzelnen Maurer nicht in Konflikt mit dem Bezugssystem seines individuellen Weltbildes geraten zu lassen. Nur wenn wir diesen, sicher schwierigen und doch so ungleich wichtigen Zusammenhang ernst nehmen und nicht als einen festgefügten statischen Rahmen, sondern als eine aktuelle, stets neue Gestaltungsaufgabe verstehen, können wir erreichen, dass die Freimaurerei als ein aktuelles Projekt nicht nur in unseren Köpfen lebendig bleibt, sondern auch in nennenswertem Umfang in der Welt wieder an Bedeutung gewinnt. Entscheidend dabei ist, dass die Loge ein Milieu schafft, in dem der einzelne Freimaurer in brüderlicher Auseinandersetzung seine Ideen entwickeln kann.

Durch die Arbeit an sich selbst verinnerlicht der Bruder Freimaurer die universelle Ethik und die nicht trennende, sondern integrierende Denk- und Handlungsweise der Freimaurerei.

Durch die Beherrschung der königlichen Kunst setzt er sich mit den Problemen seiner Mitmenschen und seiner Mitwelt auseinander.

Durch die aus dieser Arbeit resultierenden Geisteshaltung kann der einzelne Freimaurer nicht nur zu sich selbst finden, sondern kann auch Ideen für eine bessere Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln.

Nicht die Freimaurerei, sondern die einzelnen Freimaurer sind dazu bestimmt, einzeln oder gemeinsam mögliche Antworten auf die offenen Fragen unserer Zeit zu finden oder ihren Beitrag zur Schaffung eines ethischen und geistigen Fundaments für die Zukunft zu leisten.

Freimaurerei ist modern, wenn sie zeitgemäß gelebt wird. Dank ihrer toleranten, humanen und kosmopolitischen Grundlage kann sie unserem Leben und dem Leben kommender Generationen Sinn geben. Damit ist und bleibt die Freimaurerei eine moderne Idee.

Warum nennen wir uns Freimaurer?

MvSt: Bruder 2. Aufseher, warum nennen wir uns Freimaurer?

2.A: Weil wir als freie Männer bauen am Tempel der allgemeinen Menschenliebe.

MvSt: Mit welchen Steinen bauen wir diesen Tempel?

2. A: Unsere Bausteine sind wir Menschen.

MvSt: Bruder 1. Aufseher, was bindet diese Steine zu einem Ganzen?

1.A: Die Brüderlichkeit.

In diesen Fragen und Antworten fasst das Ritual programmatisch die nach außen gerichteten Ziele unseres Bunds in dichter Abstraktion zusammen. Wenn wir nur zuhören, so ist alles Notwendige vorhanden:

die Akteure                                     wir freien Männer von gutem Ruf

unsere Aufgabe                               zu bauen, nämlich

ein symbolisches Bauwerk               den Tempel

unser Ziel                                        die Menschenliebe

unsere Utopie                                  die allgemeine Menschenliebe

unsere Mittel                                   alle Menschen, die Universalität

das Bindemittel                               die Brüderlichkeit

Es geht um unser Verständnis einer zukünftigen Gesellschaft ohne Hass, Vorurteile oder Gewalt. Damit stehen wir in einer Reihe mit anderen Menschen, die das Wohl der Menschen als ihr Ziel definieren. Das Besondere ist unsere freimaurerische Methode. Im Gegensatz zu anderen Weltanschauungen und Religionen wollen wir unsere Mitmenschen nicht zu unseren Zielen bekehren, bessern oder überzeugen. Unser Auftrag richtet sich an uns selbst. Es ist unsere Aufgabe an uns selbst, an unserem eigenen rauen Stein zu arbeiten. Geführt durch Ritual, Symbole und Vorbild leitet die Arbeit am rauen Stein den Maurer von der Selbsterkenntnis zur Selbstbeherrschung, um ihn schließlich nach langen Jahren maurerischen Tuns zur möglichsten Annäherung an die Schönheit seines Menschentums zu führen, moderner ausgedrückt, Teil einer wahrhaft humanen Gesellschaft werden zu lassen. Unsere Utopie geht dahin, dass eines Tages genug Mitglieder unseres Bundes unter den Menschen leben werden, dass die Menschheit wie geimpft von dieser Idee der allgemeinen Menschenliebe ist.

Ich habe vom unserem Tun und unserer Utopie gesprochen und noch nichts über unsere Bausteine gesagt. Unsere Bausteine sind wir Menschen, damit stellt das Ritual die Frage nach unserem Menschenbild. Denn so wie ein Gebäude aus Bruchsteinen anders aussieht als ein Gebäude aus behauenen Steinen oder aus Ziegelsteinen, so ist das Aussehen des Tempels der allgemeinen Menschenliebe abhängig von unserem Menschenbild.

Unser Menschenbild ist das Menschenbild der Aufklärung, das Menschenbild von Rousseau und Voltaire, erstmals niedergeschrieben in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, proklamiert in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 und in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Unsere Aufgabe ist es, unser Menschenbild permanent auf seine allgemeine Gültigkeit zu überprüfen und den Plan des Tempels der allgemeinen Menschenliebe daher permanent weiter zu entwickeln.

Und die Brüderlichkeit, das Bindemittel der Steine, das was die freien Menschen zusammenhält?, da hören wir allzu gerne nicht richtig hin. Denn Brüderlichkeit ist nach unserem allgemeinen Verständnis etwas, das sich doch ausdrücklich auf die Brr... meiner L bezieht, dann auf alle Brr... FM. Das Ritual sagt uns jedoch, dass Brüderlichkeit die Grenzen unseres Bundes überschreiten soll und sich auf alle Menschen bezieht. Der Mörtel, der Beton, des Baus des Tempels der allgemeinen Menschenliebe ist die Brüderlichkeit, die die Steine, nämlich die Menschen, alle Menschen, zu einer festen Mauer zusammenfügen soll.

Das Arbeitsgebiet des Br... FM erstreckt sich also auf alle Menschen, also Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit nicht nur für und unter Brr.... Wenn ich ehrlich bin, das scheint mir doch ziemlich idealistisch, dafür gehen mir manche Mitmenschen zu sehr auf den Geist. Aber FM definiert nicht hehre Idealziele, denen im praktischen Leben kein Wert zukommt; als Freimaurer stelle ich den Anspruch aus Idealen konkrete Anforderungen für mich und mein Leben zu formulieren (…wie hier durch das Wort, im Leben durch die Tat).

Als Freimaurer kreisen unsere Ideale um Würde und Freiheit des Menschen, um die Humanität; als Menschen brauchen wir diese Ideale, die wie die Sterne unerreichbar sind, um zu wissen, wohin unser Weg geht. Seien wir jedoch gleichzeitig mit Karl Popper vorsichtig, der meinte, der Versuch den Himmel auf Erden einzurichten, habe stets die Hölle erzeugt und weiter, wir müssten unsere Träume der Weltverbesserung aufgeben und dennoch könnten und sollten wir Weltverbesserer sein.

Humanität, Menschenliebe, schienen in den Anfangsjahren und Jahrzehnten der FMei ein einfaches, leicht zu definierendes Ziel zu sein, Befreiung des einzelnen Menschen, Abschaffen der Standesunterschiede, Redefreiheit, Abschaffen der Zensur, Demokratie, Frauenwahlrecht. Das haben wir heute nach vielen Rückschlägen ziemlich alles erreicht. Die allgemeine Erklärung der Menschrechte vom 10.12.1948 mit dem Satz zum Anfang: alle Menschen sind frei und gleich an Würden und Rechten geboren, die Europäische Menschenrechtskonvention, die diese Wert ein- und verschärft und auch für den einzelnen Menschen einklagbar macht, geben Zeugnis davon. So sieht der Mörtel unseres Tempelbaus also aus. Die Herausforderungen der heutigen Zeit schmerzen genauso wie die Herausforderungen von früher; aber wir müssen uns ihnen stellen.

Um den Tempel der Allgemeinen Menschenliebe errichten zu können, braucht es den Br... FM, den freien Mann. Der Br... muss in doppelter Hinsicht ein freier Mann sein; er muss frei sein von Vorurteilen, denn wer nicht frei von Vorurteilen ist, kann nicht Toleranz üben. Und er muss frei sein von inneren Zwängen; denn wenn er nicht seinen persönlichen Ehrgeiz beherrschen kann, kann er auch nicht Bruderliebe üben, die Brüderlichkeit, die Mitmenschlichkeit, die die Steine zu einem festen Ganzen fügt.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

Das freimaurerische Geheimnis – ein Selbstzweck?

Das Freimaurerbild in der Öffentlichkeit ist gekennzeichnet vom immerwährenden Hinweis auf den „Geheimbund“ oder bestenfalls auf die diskrete Gesellschaft hinter verschlossenen Türen. Das „Geheime“ und das „Öffentliche“ war seit Beginn der institutionalisierten Freimaurerei stets gleichsam geschwisterhaft präsent. Was immer in der Öffentlichkeit über den Bund gesagt wurde und wird, es war und ist – selbst noch im Zerrspiegel der Verschwörungs-„theorien“ – nicht unabhängig von den Selbstdarstellungen des Bundes und seiner Mitglieder. Selbstbilder und Fremdbilder der Freimaurerei, Innen- und Außensichten des Bundes bedingten und bedingen einander gegenseitig und bilden trotz aller Widersprüche einen Gesamtkomplex.

Da ist der von Anfang an in Verbergen und Mitteilen, Verschweigen und Ausplaudern gespaltene, halböffentliche Charakterder Freimaurerei. Trotz ihres Rückzugs in die Sphäre des Geheimnisvollen fand Freimaurerei stets unter Beteiligung der Öffentlichkeit statt. Von Anbeginn bis heute existiert dieser Spagat von drinnen und draußen, von Bestrebungen geheim zu bleiben und sich gleichzeitig öffentlich zu zeigen. Die Freimaurerei war nie ein Geheimbund im strikten Sinne, aber sie war auch nie lediglich ein schlicht geselliger Verein oder ein Service-Club vom Rotary-Lions-Typ. Sie war immer eine Assoziation zwischenGeheimbund und geselliger Institution.

Und dennoch gab und gibt es trotz Präsenz in der Öffentlichkeit und trotz aller Inkonsequenz bei seiner Handhabung stets das sowohl von den Freimaurern selbst als auch von Außenstehenden – Freunden wie Gegnern – reklamierte und proklamierte freimaurerische Geheimnis.

Weder lassen die Freimaurer davon und flüchten notfalls in Formeln wie die Freimaurerei hat kein Geheimnis, die Freimaurerei ist ein Geheimnis, noch wollen die Gegner der Freimaurerei darauf verzichten, die den Freimaurern in ihren extremen Verschwörungsvarianten vorhalten, dass es gerade die vermeintliche Offenheit der Freimaurerei ist, die ihren Charakter als geheime Verschwörung verbergen soll, ihn aber gerade hierdurch – dass wissen natürlich die schlauen Verschwörungstheoretiker – erst recht klar erkennbar macht.

Das maurerische Geheimnis ist nun vor allem das Geheimnis der verschwiegenen Rituale, und nicht nur die positiven Selbstzuschreibungen der Freimaurerei, auch alle Formen von Kritik, Ablehnung und Verurteilung machen sich am Geheimnis der Rituale fest.

  • Für die Kirchen verhüllen sich in den Ritualen Elemente einer alternativen Religiosität, wenn nicht gar einer anderen Religion, zumindest aber verkörpern sie den Ungeist des religiösen Relativismus.
  • Für die Vertreter der Verschwörungsmythen bietet der geheime Raum des Rituals den Rahmen für das Aushecken mannigfaltiger Verbrechen und Anschläge gegen die gesellschaftliche Ordnung, gegen Volk und Staat.
  • Für den Volksaberglauben konstituiert das Ritual die besser strikt zu meidende Welt des Makaber-Gruseligen, in der vielleicht gar Satanisches im Spiele ist.
  • In der Sicht intellektueller Kritiker kaschieren Ritual und Geheimnis Ansprüche auf Selbsterhöhung und persönliches symbolisches Kapital, wenn sie nicht gar als Ausdruck des Lächerlichen gelten, in vielen Variationen der Charakterisierung durch den Philosophen Ernst Bloch, Freimaurerei sei nichts als eine „wahnhaft gesittete Mummerei“.

Sowohl für die freimaurerische Gruppenbildung als auch für das Spannungsfeld zwischen Freimaurerei und Öffentlichkeit war und ist das maurerische Geheimnis von großer Bedeutung.

  1. Die schützende Funktion: Die Geheimhaltung der Logenaktivitäten – wie auch der Aktivitäten vieler anderer Aufklärungsgesellschaften – schien Bedingung zu sein für die Absicherung einer von staatlichen und kirchlichen Eingriffen und Kontrollen freien Sphäre, die dazu diente, ein neues soziales Gruppenmodell zu praktizieren und aufklärerische Diskurse zu führen. Um die vielzitierte Feststellung Reinhart Kosellecks zu variieren: Das „Geheimnis der Freiheit“ war nur als „Freiheit im Geheimen“ zu antizipieren.
  2. Die bewahrende Funktion: Hier gilt die Bewahrung des Geheimnisses als Voraussetzung für die Sicherung einer – im Falle der Veröffentlichung störanfälligen – Integrität des rituellen Geschehens als Quelle von Wahrheit und Erkenntnis, was vor allem für esoterische und christlich-gnostische Freimaurersysteme und weniger für die humanitäre Freimaurerei von Bedeutung war und ist.
  3. Die soziale Funktion: Die Teilhabe am gemeinsamen Geheimnis diente und dient der Stiftung von Freundschaft und der Bildung von Netzwerken unter Menschen, die sich sonst nicht als Freunde begegnen würden. Auf der im Ritual symbolisch konstituierten „Setzwaage“ konnten Menschen unterschiedlicher sozialer Stände, Schichten und Milieus miteinander kommunizieren. Die Begegnung als „bloße“ Menschen im Rahmen des freimaurerischen Rituals hob die gesellschaftlichen Unterschiede zwar nicht auf, überwand sie jedoch im Innenraum der Loge und schwächte ihre Bedeutung auch außerhalb der Loge zumindest ab.
  4. Die integrative Funktion: Das Geheimnis und die Teilnahme daran binden die generell eher unbestimmten Zwecksetzungen der Freimaurerei durch Stiftung von emotional erlebter, wert- und symbolüberhöhter Gemeinsamkeit zusammen. Das freimaurerische Geheimnis wirkt als emotionale Heimat, als Attribut, das zum gemeinsamen Heim gehört: „Niemand wird es je erschauen, was einander wir vertraut, denn auf Schweigen und Vertrauen ist der Tempel aufgebaut“, hat der Freimaurer Goethe dazu gedichtet.
  5. Die pädagogische Funktion: Die unter dem Schutz der Verschwiegenheit hergestellte Offenheit und Bereitschaft für persönliche Veränderung („Selbstvervollkommnung“, „Arbeit am rauen Stein“) des eigenen Selbst dient der Einübung von Tugenden, die sich auch im „profanen“ Umfeld des Freimaurers bewähren sollen. Die Absicht, im Sinne einer moralischen Entwicklung des Menschen auf den Habitus des Logenmitglieds einzuwirken, findet sich in vielen Texten, Liedern und Ritualen seit Beginn der modernen Freimaurerei.
    Das freimaurerische Geheimnis besaß und besitzt jedoch auch Funktionen, die mehr oder weniger in Widerspruch zu den erklärten Zielvorstellungen der Freimaurerei gerieten, dennoch aber bis heute ihre Wirksamkeit behielten. Hierunter sind zu nennen:
  6. Die illusionsstiftende Funktion: Das maurerische Geheimnis dient (zumindest auch) der Schaffung und Sicherung eines Raums zum Ausleben mannigfaltiger „Selbstverwirklichungs- und Selbsterhöhungsambitionen“. Hierzu dienen die rituelle Konstruktion einer besonderen, von der Welt des Profanen verstärkt abgehobenen, wert- und empfindungssteigernden Atmosphäre, die Vergabe von Ämtern, Würden und Orden, die gegenseitige Beimessung einer besonderen persönlichen Bedeutsamkeit sowie die Durchführung aufwändiger Zeremonien, nicht zuletzt, wenn Großlogen internationale Veranstaltungen durchführen und sich Repräsentanten der verschiedenen nationalen Freimaurereien begegnen.
  7. Die Lockfunktion: Das Geheimnis mit dem ihm eigenen Einhüllen des Bundes in einen „Mantel des Geheimnisvollen“ kann die Attraktivität der Freimaurerei und ihrer Sonderformen erhöhen und wird gelegentlich gar als eines der Hauptwerbemittel des Bundes gepriesen. Zum Zuge kommt diese Funktion auch im Verhältnis zwischen Angehörigen „höherer“ Grade und den Mitgliedern der „blauen“ Logen.
  8. Die Funktion der „inneren Hierarchisierung“: Eine Vermehrung der Grade der Freimaurerei über die traditionellen Stufen „Lehrling“, „Geselle“ und „Meister“ hinaus im Sinne einer „Hierarchie von Einweihungen“ schafft nicht nur erweiterte Erlebnis-, Geltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sondern auch Abschottungen und Binnendifferenzierungen, die sich nicht selten als Element der Generierung von Konflikten innerhalb und zwischen den Logen und Großlogen erwiesen haben und erweisen.

1770 fasste eine zunächst anonym erschienene, wiederholt aufgelegte kleine Schrift von Johann August von Starck unter dem Titel „Apologie des Ordens der Frey Maurer“ die Antworten der Freimaurerei auf folgende – im Prinzip bis heute unverändert gebliebenen – Hauptpunkte der Kritik zusammen

  • Das Geheimnis der Freimaurer als solches widerspräche der Aufklärung, denn was nützlich und gut sei, könne offen und klar dargelegt werden,
    • die Freimaurerei bilde einen Staat im Staate (statum in statu),
    • der Eid der Maurer sei schrecklich, er schränke durch die angedrohten, unmenschlichen Sanktionen die natürliche Freiheit des Menschen ein
    • das Abfordern eines Eides sei zudem ein Monopol der Obrigkeit, und die Freimaurerei verbreite unter seinem Schutz eine gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber Nation und Religion
    • schließlich sei der Orden der Freimaurer ohne wahren Nutzen und daher überflüssig, es sei denn, er betreibe unerlaubte Zusammenkünfte, die einen Herd für Verschwörungen bilden könnten

Bis heute gilt, die Freimaurer litten nicht nur an der sie umgebenden Mythologie, der faszinierenden Aura des Geheimen, sie profitierten auch davon. Denn die Mythen halten die Freimaurerei im Gespräch, führen ihr – bis hin zu den Dan-Brown-Fans – viele Neugierige zu und veranlassen die Maurer selbst, immer wieder darüber nachzudenken, ob hinter ihrem Orden nicht doch mehr stecke, ob das Geheimnis nicht doch einen anderen Inhalt habe als bisher in seiner schlichten englischen Ausformung zu erkennen war.

Wenn beispielsweise Herder in seiner Korrespondenz mit Schröder an der Wende zum 19. Jahrhundert die beiden Grundvoraussetzungen einer von ihm mitgetragenen Reform der Freimaurerei formuliert – nämlich Wiederherstellung des „alten Rituals in seiner reinsten Gestalt“ und eine angemessene rituelle Praxis –, und seinen Brief dann mit den Worten schließt: Die geheimen Gesellschaften sind bisher ein fressendes Gift, Höhlen des Betrugs, der Halbwisserei und … eines despotischen, kleingeistigen Egoismus gewesen!, so argumentiert er gegen die damals aktuellen Formen der Freimaurerei nicht anders als viele antimasonische Schriften.

Der britische Historiker und Autor des neu erschienenen Buches „Die Freimaurer – der mächtigste Geheimbund der Welt“ beschreibt die legendäre Verschwiegenheit der Freimaurer als ein einziges großes Missverständnis. Wir müssen die Idee hinter uns lassen, dass die freimaurerische Verschwiegenheit irgendetwas verstecken will. Die Verschwiegenheit ist eine rituelle Performance. Wenn sie Freimaurer werden, stehen sie vor unzähligen Schichten von Geheimnissen. Alles, was sie sehen, sind Geheimnisschichten. Und wenn sie alle Geheimnisse abgeschält haben, sind die Inhalte, die am Ende bleiben, überraschend banal: <sei ein guter Kerl. Finde etwas mehr über die Welt heraus. Und vergiss nicht, dass du sterblich bist.

Das Geheimnis ist hier Selbstzeck. Es injiziert eine kleine Dosis Mysterium in eine immer profaner werdende Welt. Seit Jahrhunderten ist es unser bestes Propagandawerkzeug. Es hält unsere Gemeinschaft zusammen, verleiht uns Wichtigkeit und bringt uns so immer neue Mitglieder. Gleichzeitig ist das maurerische Geheimnis der Humus, auf dem Verschwörungstheorien sprießen.

Zusammenfassung eines Artikels von Br... Hans-Hermann Höhmann, PM der l Quatuor Coronati, PM der L Ver sacrum, GR der GL AFAM Deutschland

Instruktion zum Grad des Gesellen

Der Mensch wird am Du zum Ich. Dieses Zitat von Martin Buber beschreibt den Inhalt des Gesellengrads in einem Satz. Die Gemeinschaft der Brr... spielt dabei die entscheidende Rolle. In der brüderlichen Gemeinschaft, im Vertrauen auf die wechselseitige Bruderliebe kann erlangte Erfahrung und erworbenes Wissen um die Tugenden in die Tat umgesetzt werden. Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung sind dabei die Übungsfelder, die zu Toleranz und Solidarität führen sollen.

Die Aufgabe der Selbstfindung gelingt durch gegenseitige Hilfe innerhalb der Logengemeinschaft am besten. Toleranz und Humanität werden zwar im großen Kreis gelehrt, im kleinen Kreis aber besser erlernt und geübt. Die Loge soll Ausdruck des Verbundenseins, einer Weggemeinschaft und im weiteren Sinn einer Gesinnungs- und Wertegemeinschaft sein. Im geschützten Innenraum der Loge versuchen Brr... FM so zu leben, wie nach ihrer Überzeugung die ganze Menschheit leben sollte.

Je authentischer und empathischer in der L kommuniziert und reflektiert wird, je größer das Verlangen des einzelnen Br... ist, die freimaurerischen Tugenden bei sich anzuwenden, umso mehr profitiert die L als Ganzes. Äußerlich gesehen ist die Logengemeinschaft eine eher lose Gemeinschaft, denn sie greift nicht in das Privatleben des einzelnen Br... ein und schon gar nicht in dessen Überzeugungen. Brr... FM leben in keinem elfenbeinernen Turm wie einem Kloster, sondern leben ganz normal im üblichen gesellschaftlichen Leben. Dennoch ist es der Auftrag an jeden Br... seine maurerische Haltung im Alltag zu beweisen. Tatsächlich geht es um den Weg, um das Bemühen und um die Übung, um Selbstreflexion und die Reflexion in der Gemeinschaft, um das eigene Handeln wieder an den Zielen auszurichten. In der L werden die freimaurerischen Tugenden erlernt und geübt, mit dem Ziel, diese anschließend selbstverantwortlich im eigenen Umfeld, in der sogenannte profanen Welt umzusetzen.

Selbsterkenntnis ist nur durch Reflexion möglich. Dabei gilt in der Loge ganz besonders, dass der Br..., der die größte Herausforderung darstellt, gleichzeitig der größte Lehrmeister ist. Das Gegenüber zeigt die eigenen Baustellen auf, die es zu bearbeiten gilt. Der Br... erzieht sich selbst. Es ist die Auseinandersetzung mit den anderen Brr..., die ihm den Spiegel vorhält.

Dennoch sind Freimaurer keine besseren Menschen. Auch wenn es sich in der Theorie schön anhört, die Praxis sieht oft genug leider anders aus.

Jeder lernt vom und am anderen, ganz gleich, ob er Lehrling Geselle oder Meister ist. Jede Meinung ist wichtig und sollte gleichermaßen geschätzt werden. Wahrscheinlich ist es daher richtiger, die Grade mehr als Erkenntnisstufen zu verstehen als als vermeintliche Rangordnung. Im Gegensatz zu profaner Ausbildung bestehen die Lehren des Gesellengrades nicht aus angehäuftem Wissen sondern aus Übung und Vertiefung von bereits Gelerntem und der Anwendung von neuem Wissen.[1] Die initiatorische Unterweisung des Rituals fördert das Verständnis und das Bewusstsein für die höchsten Werte des Wahren, Guten und Schönen.

Der Gesellengrad wird gerne als Zwischengrad wahrgenommen und wird daher oft vernachlässigt oder für eine Formsache gehalten, die es zu erfüllen gilt, um zum M erhoben zu werden. Er erscheint eingeklemmt zwischen der Lehrlingszeit, dem notwendigen Anfang, und der Meisterschaft, dem Abschluss der Einweihung in den Bund der Brr... FM. Dennoch wirkt er als unverzichtbare Klammer zwischen dem L und dem M, denn mit der Beförderung zum G hat der Br... FM den ersten Schritt zur Meisterschaft getan.[2]

...

Bevor ihr als GG freigesprochen werden konntet, musstet ihr weiter lernen. Weiter zu lernen bedeutet, sich von Liebgewonnenem und Vertrautem zu lösen[3]. Im Deutsch der Betriebspsychologen würden wir sagen, ihr müsst auch auf einen Change-Prozess einlassen. Veränderung macht Angst, Veränderung beunruhigt und verunsichert. Warum diese Veränderung dennoch erfolgreich sein kann und warum ihr euch getrost darauf einlassen könnt, verrät uns das Ritual. Es ist die Bruderliebe, die jeden, der sich auf diese Veränderungen einlässt – anders als meist im profanen Leben – auffangen und tragen wird.[4] Nur im Vertrauen auf die Brüderlichkeit ist es möglich, an sich selbst zu arbeiten und ein besserer Mensch zu werden.

Wir müssen die vertraute Stätte auch deshalb verlassen, damit wir uns für das wirklich Unbekannte öffnen können, damit wir frei werden, uns von ihm überraschen zu lassen, wenn es erscheint. Es geht um das Unbekannte in der Wiederholung des Vertrauten, in der vertrauten Wiederholung. Erst dann sind wir in der Lage, das Unbekannte aus dem Bekannten zu entwickeln und uns dem Meister zu nähern.[5] Dabei könnt und müsst Ihr der eigenen Kraft vertrauen,[6] denn Ihr seid keine unwissenden LL mehr, die nur durch die sichere Hand des Br... geführt den Tempel betreten können. Dafür schickte euch der MvSt auf fünf Gesellenwanderungen.

Als GG habt ihr ein Wissen erreicht, das euch selbstbewusst antworten lässt: …ich bin es prüfe mich. Wenn ihr nach dem Wort des Gesellen gefragt werdet, so müsst ihr den Br... 1.A nicht mehr um den ersten Buchstaben fragen, sondern ihr wisst ihn selbst. Wie ihr jedoch später erfahren werdet, kann dieses Wissen trügerisch sein und euch eine Reife, eine Erfahrung und damit einen Anspruch vorgaukeln, dem ihr nicht – noch nicht – gerecht werdet.

Nach alter Tradition[7] ist die Wanderung die Bewährungsprobe des Menschen, eine Notwendigkeit des Menschseins, Mittel für seine Weiterentwicklung, Möglichkeit Prüfungen zu bestehen, andere Aspekte der Welt und sich selbst kennen zu lernen. Wenn die Geduld die Bewährungsprobe des Weisen ist, so ist die Reise der Weg der Erkenntnis.[8]

 

Wandern heißt sich mit dem Fremden auseinander zu setzen und das Fremde vertraut werden zu lassen. Ihr müsst euch neuen Herausforderungen stellen, Abenteuer erleben, neue Erfahrungen machen, Veränderung erleben, um schließlich als veränderte wieder heimzukehren. Eine Reise hilft, aus sich selbst heraus zu treten, neue Horizonte zu entdecken, neue Orte, neue Kulturen. In diesem Sinn ist die initiatorische Reise eine spirituelle Suche, ein Weg zu Erkenntnis und Licht.

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Die Gesellenreisen beginnen scheinbar konventionell,[9] um dann mit einer paradoxen Intervention weiter zu gehen.[10] Während der ersten Wanderung betont der 1.A den Wert der Gemeinschaftsarbeit. Jeder von uns steht in der langen Reihe der Brr..., jeder trägt seinen Teil zu dieser Arbeit bei. Arbeit im maurerischen Sinn bedeutet diejenige Form des Schaffens, wodurch die Welt verändert werden soll, den Bau des Weisheitstempels, des Tempels der Humanität. Der Beitrag zum Bau muss weder neu noch besonders originell sein, wichtig ist allein, dass jeder seinen Teil beiträgt. Dieser Bau kann nur durch den Einsatz der gestalterischen Fähigkeiten des werktätigen Menschen fortschreiten. Ob dieses Vorhaben gelingen wird, bleibt jedoch offen. Der Bau des Weisheitstempels, des Tempels der Humanität, des Tempels der allgemeinen Menschenliebe ist unser Auftrag als Maurer. Leben bedeutet Tätigkeit, Arbeit, Untätigkeit Tod, Arbeit soll weder Last noch Strafe sein.

Wir schlagen auf schon beschlagenes Eisen, das nach uns weiter bearbeitet werden wird. Wir kennen weder den Beginn, noch sehen wir das Ende oder können ahnen, wie die vollendete Arbeit aussehen mag. Das Gesellenritual prophezeit euch, dass ihr das Ende, die Fertigstellung des Großen Werks nicht erleben werdet, dass ihr vor Abschluss des Baus eure Werkzeuge niederlegen müsst und ein anderer eure Stelle einnehmen wird. Damit stellt euch das Ritual in eine endlose Kette von Toten; in diese Kette werdet ihr euch eines Tages ebenfalls einreihen. Damit weist uns der 1.A auf die Endlichkeit des Lebens hin, indem uns das Ritual in eine Kette mit Toten stellt, nämlich all die Brr..., die vor uns und mit uns am rauen Stein gearbeitet haben. Gleichzeitig werden auch wir zu Toten, wenn Brr... nach uns ihre Schläge tun werden.

Ihr sollt ein neues Verständnis von individueller Freiheit erlernen, nämlich freiwillige verantwortungsvolle Vernetzung in einer langen Kette, die sich durch die Zeiten zieht. Handeln heißt teilnehmen an einem Ziel, das größer ist als ich selbst, das ich nie ganz kennen kann, und über das ich nicht verfüge. „Die Kunst ist lang, das Leben kurz.“

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Auf der zweiten Wanderung erfahrt ihr, dass der Lärm von Hammer, Beil und Eisenzeug, das heißt von Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung verklungen sein muss, damit der Weisheitstempel, der mehr als ein Maurertempel ist, gebaut werden kann. Das Bindemittel für den Stein in der Mauer ist die geleistete Arbeit, die Selbstaufgabe um der großen Sache willen. Arbeit am rauen Stein bedeutet individuell zu arbeiten, ist eine Tätigkeit, die jeder Br... für sich verrichten muss. Die individuelle Arbeit jedes einzelnen Br... dient der Überwindung der Individualität und der Einfügung in die allgemeine Menschenliebe. Diese zweite Wanderung legt uns den endgültigen Abschied von unseren Ecken und Kanten, unserer egoistischen Individualität – eben dem rauen Stein – auf, um uns zum glatten Stein, dem besseren Menschen, der die Bruderliebe wahrhaft leben kann, werden zu lassen.

 

Die zweite Wanderung stellt eine weitere Forderung, es solle kein Streit und kein Zank herrschen. Wie geht das mit der dritten Wanderung, dem Schwert und der Aufforderung für das große Werk zu kämpfen zusammen? Es wäre einfach, die widersprüchliche Verbindung dieses Auftrags mit dem Auftrag der zweiten Wanderung, ohne Streit und Zank zu arbeiten, etwa so zu verstehen: innen Friede und Eintracht, nach außen Schutz durch das Schwert.

 

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Friedlich arbeiten wir Freimaurer in unserem Bund an unserem großen Ziel, sind in brüderlicher Liebe miteinander verbunden, teilen dieselben Ideale. Das stärkt uns, um im profanen Leben gegen Unverständnis und Feindseligkeit mit der Waffe des Geistes aufzutreten, Zivilcourage zu zeigen und den Menschen, die sich ihrer Menschlichkeit nicht ganz so bewusst sind wie wir, wenn nötig, mit harter Hand den rechten Weg zu weisen.

 

Aber ist das wirklich gemeint? Vergessen wir nicht, wir bauen den Tempel der allgemeinen Menschenliebe, und der soll ja mehr als ein Maurertempel sein. Und wo ist es einfacher Zivilcourage zu zeigen, dort, wo wir es erwarten im Profanen oder innerhalb unserer eigenen Reihen mit uns selbst als unseren schlimmsten Feinden. Im Grunde wird hier auch die Frage nach unserer maurerischen Konfliktkultur, unserer innermaurerischen Toleranz gestellt. Das Ziel ist nicht die laue Hinnahme von Differenzen unter den Brr..., die im Rahmen der brüderlichen Liebe ohnehin keine Relevanz mehr haben sollten. Dieses Leugnen der Differenzen führt nur dazu, dass sie im Untergrund weiter glosen, um dann plötzlich umso heftiger wieder aufzubrechen.

 

Der Lehrbrief unseres Br... Goethe gibt uns Hinweise, wann das Schwert in den eigenen Reihen gefragt ist. Dann, wenn wir den Gipfel im Auge in der Ebene wandeln, uns die Höhe reizt und nicht die Stufen, wenn beharrliche Mittelmäßigkeit die Besten ängstigt, wenn wir die Kunst nur halb kennen und viel reden, wenn dieses Geschwätz den Schüler zurückhält, wenn es unbequem ist nach dem Gedachten zu handeln, dann, meine Brr... Gesellen, braucht es das Schwert in den eigenen Reihen. Es braucht dann das Schwert in den eigenen Reihen, wenn wir es uns in der Biedermeierlichkeit unserer BH mit vielen Feunderln allzu bequem eingerichtet haben, wenn wir uns als Mitglieder einer Elite fühlen, die eigentlich wüsste, wie’s gehen könnte, wenn wir Toleranz und Brüderlichkeit vorschützen weil wir die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Br... scheuen.

 

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Wie sieht also das freimaurerische Schwert aus, das zu führen uns der ZM in der dritten Reise auffordert. Besserwisserei, Belehrung und gute Ratschläge helfen uns nicht weiter, da sind wir erst recht beim Geschwätz und dem Blick auf den Gipfel. Beginnen können wir nur bei uns selbst, und wir brauchen die Hilfe der Brr....

 

...

Wie das gehen kann zeigt uns der TH auf der vierten Wanderung. Wenn der TH den LL auf ihrer Wanderschaft den Spiegel vorhält, so sagt er nicht, erkenne dich selbst, sondern: „…ich zeige euch ein Bildnis…“ Ein Bild ist etwas, das sich jemand von einer Sache oder von einem Menschen macht; ein Bild hat nicht immer komplett mit der Realität zu tun, da fließt viel mehr ein, ein Bild ist sehr oft subjektiv.

 

Der Spiegel ist ein seltsames Instrument, denn was er zeigt, zeigt er in einer verschobenen Perspektive. Das Bild im Spiegel kann jederzeit verzerrt sein und auch der Spiegel hat seine blinden Flecken. Es ist die besondere Eigenschaft des Spiegels, dass ich ihn nie betrachten kann, ohne etwas in ihm zu sehen. Und manchmal sehen wir Dinge, die wir eigentlich so nicht sehen wollen. Verzerrt also der Spiegel die Welt oder entzerrt er die Bilder von der Welt? Geht es uns da nicht manchmal wie dem Basilisken, der an der Hässlichkeit seines eigenen Spiegelbilds stirbt?

 

Der Spiegel, wie ihn uns der Br...TH vorhält, zwingt uns nicht nur zur Begegnung mit uns selbst, sondern er wird manchmal auch zum Instrument der Zerstörung. Der Spiegel weist auf die Dramatik und Gefahr der Selbstreflexion hin: man kann an sich selbst zugrunde gehen. Der Spiegel setzt die blinden Flecken der Selbstwahrnehmung ins grelle Licht. Was immer wir im Spiegel sehen, ist unser eigenes Bild, das oft genug unser Entsetzen auslöst. Den Spiegel einem anderen Menschen, einem Bruder, vorzuhalten, ist eine Form von Drohung.

 

Mit Hilfe des Spiegels, decke ich hässliche Seiten an mir auf, die ich mir selbst verboten habe zu kennen.[11]. Dieses verbotene Wissen freizulegen und zu integrieren ist ein weiterer Schritt zur Selbstveredelung.

 

Ihr sollt Euch im Spiegel, den ein anderer hält, und ihr sollt Euch im anderen, der Euch den Spiegel vorhält, als Euch selbst erkennen. Ihr sollt Euch fragen, ob dies das Bild eines wahren und treuen Bruders ist. Jeder soll sich im Spiegel des Bruders erkennen, und jeder soll Spiegel sein für den Bruder, in dem dieser sich erkennen kann.

 

Wie können wir Spiegel sein für den Bruder? Wie können wir zur gleichen Zeit uns im Spiegel des Bruders selbst erkennen? Und wie können wir wahrnehmen, dass beides letztlich dasselbe ist? Das sind die Fragen nach jener einzigartigen Verbindung zwischen uns, die wir als brüderliche Liebe bezeichnen, unser Bild und Vorbild für die allgemeine Menschenliebe.

 

Die andere Frage ist, wie kann ich ganz im anderen bei mir sein, im Spiegel mich als anderer, der ich selbst bin, erkennen und lieben? Das ist nur möglich, wenn ich mich ganz und bedingungslos selbst akzeptiere, mit meinen guten Seiten und vor allem mit meinen Fehlern. Nur dann stelle ich sie nicht dort ins Bild, wo ich selbst Spiegel bin für den Bruder. Aber das geht wiederum nur, wenn der Bruder als Spiegel mich ebenso bedingungslos akzeptiert, wie er sich selbst akzeptiert. Ich kann mich nur lieben, wenn ich geliebt werde. Ich kann nur von jemandem geliebt werden, der sich selbst lieben kann, der es deshalb kann, weil er von mir geliebt wird. Dieser Zirkel ist das innerste Geheimnis der FM. Er ist unauflösbar, er kann nur geschlossen bleiben, wenn er in Bewegung ist. Bewegung heißt wiederholte Selbstüberprüfung und Selbstannahme als Bedingung und als Folge brüderlicher Liebe, als brüderliche Liebe. Die fm Art, das scharfe Schwert des Geistes zu führen, ist die reine bedingungslose Selbstliebe im Spiegel der brüderliche Liebe, ist die reine bedingungslose brüderliche Liebe im Spiegel der Selbstliebe.

 

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Die fünfte Wanderung beginnt mit einer paradoxen Intervention. „…noch blickt ihr in das nächtliche Dunkel, aus dem ihr gekommen seid…“ Wo ist da nächtliches Dunkel? – als LL habt ihr doch das Licht erhalten, ihr glaubt in der KK fortgeschritten zu sein und nach jeder Wanderung hat euch der MvSt bestätigt: „…so sind sie in der KK abermals fortgeschritten…“, wo also ist da bitte nächtliches Dunkel? Der Osten ist vom Flammenden Stern erleuchtet, der so hell leuchtet, dass alle bisherige Erkenntnis dagegen dunkel erscheint. Wir erfahren, dass ab nun alles in seinem Licht stehen und er die ewige Flamme sein soll, die in unserer Brust vor dem Altar der Menschlichkeit brennt. Wir stehen in einem Licht, das wir nicht kennen. Als ewige Flamme leuchtet es weit über unser Leben hinaus, ist vielleicht die Ewigkeit unseres Lebens, wo nicht mehr wir leuchten, sondern der Stern. Die fünfte Wanderung findet in der Beförderung noch nicht ihr Ende. Während eurer Gesellenzeit setzt ihr sie symbolisch fort. Ihr versucht euch dem leuchtenden Osten anzunähern, wie es euch der Lehrbrief unseres Br... Goethe verheißt. Das endgültige Ziel der fünften Wanderung werdet ihr jedoch erst bei eurer Erhebung zum M erfahren.

...

Im Gesellengrad ist der Osten vom Flammenden Stern erleuchtet. Der Flammende Stern symbolisiert den erneuerten, den perfekten Menschen. Er ist das Bild des ewigen Lichts und der Wahrheit. Sein Licht soll die Brr... Freimaurer Gesellen auf den Wegen ihres Lebens leiten.[12] Wir sehen in ihm [dem Flammenden Stern] nicht allein das Bild der Brüder- und der Menschenliebe, sondern vorzüglich das Symbol der menschlichen Vernunft, des logischen Denkens, des Wahrheit suchenden und erkennenden Geistes. Das ist der Stern, der auch im Dunkeln leuchtet, mit dessen Hilfe der Mensch sich zurechtfinden kann.[13]

 

Der Flammende Stern ist das Symbol der menschlichen Vernunft, des logischen Denkens und des die Wahrheit suchenden Geistes. Er verkörpert die Fähigkeit zur Erkenntnis, zur Unterscheidung von Gut und Böse und kann daher auch im Dunkeln, d.h. wenn keine Orientierung an äußeren, objektiven Maßstäben möglich ist, leuchten. Der Mensch ist von sich aus, von innen heraus, erkenntnisfähig, lautet die Botschaft. Wir besitzen ein selbstreflexives Bewusstsein und können somit unser Handeln überdenken, in Frage stellen und verändern. Wir sind uns unserer selbst bewusst.

 

Das Pentagramm ist das Zeichen des Mikrokosmos, das Zeichen des Menschen und der Menschenliebe, welche den Mittelpunkt des Mikrokosmos (des geistigen Universums) bildet. Es symbolisiert die Beherrschung der vier Elemente durch den Geist. Mit diesem Zeichen nützt der Geselle die Kräfte der Luft, des Feuers, des Wassers und der Erde. Damit ist das Pentagramm, der Flammende Stern, ein Zeichen der Allmacht und der Selbstbeherrschung. Das Pentagramm vollkommen zu verstehen, heißt den Schlüssel zu den zwei Welten zu besitzen. Alle Mysterien der Magie, alle Symbole der Gnostik, alle Diagramme des Okkultismus, alle kabbalistischen Schlüssel der Prophezeiung sind in dem Zeichen des Pentagramms zusammengefasst, von dem Paracelsus verkündet, dass es von allen das größte und mächtigste sei.[14]

Je nach der Ausrichtung seiner Strahlen ist das Pentagramm in der Magie Symbol für das Gute genauso wie für das Böse, Zeichen für Ordnung wie für Unordnung; es steht für Einweihung wie für Gotteslästerung, ist Luzifer oder Morgen- bzw. Abendstern, Maria oder Lilith. Im Pentagramm ist der menschliche Körper symbolisch dargestellt, ähnlich wie in den Proportionen von Vitruv und Leonardo da Vinci. Die Umkehrung des fünfzackigen Sterns mit der Spitze nach unten und zwei Strahlen nach oben stellt einen Dämon, Unordnung, Umsturz oder Wahnsinn dar.

Die Freimaurer umgeben das Pentagramm mit fünf Flammenbündeln, mit jeweils fünf züngelnden Flammenfingern. Diese fünf steht für die Quinta Essentia, die fünfte Essenz der Alchimisten, die über die gegebene Realität der vier Elemente, über die Dimensionen von Zeit und Raum, hinausgehende Kraft, die fähig ist, den darin verborgenen Sinn zu offenbaren. Das Pentagramm ist dafür das Zeichen und die fünf ist die Zahl des Menschen. Der Kabbalist betreibt numerologische Kosmogenese, versucht also aus der Symbolik der Zahlen, die Entstehung des Universums und seine Gesetzmäßigkeiten herzuleiten. Seine Formel des Menschen lautet: 2 (göttlicher Wille) + 3 (Materie) = 5. Der Mensch mit seinen fünf Sinnen und den fünf Fingern steht ihm hierbei für die Quintessenz der Schöpfung, als Mittler zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos. Deshalb hat auch der Magier Agrippa von Nettesheim 1565 den Menschen in das Pentagramm eingeschrieben, in vier Strahlen die Gliedmaßen, der fünfte umschließt den Kopf. Umgeben ist der Stern von astrologischen Planetensymbolen.

Alchemistisch interpretiert symbolisiert das Pentagramm die Quinta Essentia. Der Buchstabe G stellt dann das alchemistische Zeichen für Sal dar, bei dem allerdings der umschließende Kreis nicht gänzlich geschlossen ist. Damit weist der Flammende Stern über den Gesellengrad hinaus und zeigt nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg, den der Geselle gehen muss, um die wahre Meisterschaft zu erreichen. Er weist auf die wahre Feuerprobe hin. Das Feuer muss ausgearbeitet – oder richtiger ausgesandt -, zum Wirken gebracht werden. Das Feld der Tätigkeit des Gesellen bemisst sich gleichsam nach der Ausdehnung oder Tragweite seiner Strahlung. Dabei tritt der Geselle mit der Welt in eine Beziehung von solch erhöhter Wirksamkeit, dass das intellektuelle Erfassen davon eine neue Erleuchtung erfährt und eine Verbindung des zuerst bloß individuellen Willens mit dem der Kollektivität anbahnt, den Schritt vom Lehrling zum Gesellen.

Der Buchstabe G ist der fünfte Buchstabe im Alphabet; oft wird er als Hinweis auf die Geometrie interpretiert die fünfte der sieben freien Wissenschaften der Scholastik.

Mit Geometrie ist die nach ewigen Grundgesetzen zu befolgende sittliche Ordnung einer geistigen Welt gemeint[15]. Die Kenntnis der Geometrie hilft dem Br… FM das rechte Maß und Verhältnis aller Dinge zu finden. Der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl, lehrte schon Pythagoras an seiner Mysterienschule in Krotona und wies seine Schüler an, die Gesetze der Musik und das Wesen der Zahlen zu erforschen, nach der Harmonie zu suchen, welche Himmel und Erde, Sterne und Seele im Wohlklang vereint.

In den Anderson‘schen Konstitutionen heißt es: Adam, unser Urvater, der nach dem Bilde Gottes, des Großen Baumeisters des Universums, geschaffen wurde, muss die Freien Künste, vor allem Geometrie, in seinem Herzen eingeschrieben haben.[16] Als FM stehen wir in Tradition der großen Denker und Geometer, beginnend mit Thales von Milet, über Pythagoras zu Euklid, weiter zu Vitruv und schließlich zu den Kathedralenbauern der Gotik[17].

Für uns FM ist der flammende Stern zunächst einmal und vor allem das Symbol der menschlichen Vernunft, des logischen Denkens und des die Wahrheit suchenden Geistes. Er verkörpert also die Fähigkeit zur Erkenntnis, zur Unterscheidung von Gut und Böse und kann daher auch im Dunkeln, d.h. wenn keine Orientierung an äußeren, objektiven Maßstäben möglich ist, leuchten. Der Mensch ist von sich aus, von innen heraus, erkenntnisfähig, lautet die Botschaft. Wir besitzen ein selbstreflexives Bewusstsein und können somit unser Handeln überdenken, in Frage stellen und verändern. Wir sind uns unserer selbst bewusst.

Das Licht des Flammenden Sterns weist über den Gesellengrad hinaus. Es weist uns an, die Geheimnisse der Freimaurerei und des Lebens zu ergründen. Unablässig – so sagt unser Ritual – sollt Ihr Euch bemühen, weitere Fortschritte in der KK zu machen, als GG – und wir alle sind in unserem Maurerleben GG – sollen wir nach Licht und Wahrheit streben. Deshalb senkt der MvSt bei jeder Gesellenarbeit aufs Neue das Licht des Flammenden Sterns in unsere Herzen, damit es uns ein Leuchtfeuer im Leben, eine Quelle innerer Wärme sein kann. Für uns GG reicht es nicht aus den Flammenden Stern gesehen zu haben, folgen wir seinem Licht. Es zeigt uns den Weg als ewige Flamme für Menschlichkeit und Brüderlichkeit.

...

Meine lieben Brr... GG! Geht nun eigenverantwortlich an eure Arbeit. Die Werkzeuge haben wir Brr... MM euch im Rahmen eurer Beförderung übergeben. Aus euch GG zu machen, vermögt nur ihr selbst, denn das schönste Ritual macht allein keine Veränderung. Geht euren Weg, bewährt euch als Menschen und Brr... FM, achtet auf euch selbst und folgt dem Licht des Flammenden Sterns, dann nähert ihr euch auch dem Meister.

[1] …sie wollen gelerntes verwerten und neues Wissen mit auf den Weg nehmen…, …hier wartet Arbeit, klopfen wir an… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[2] …und nähert sich dem Meister… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[3]wir nehmen Abschied von vertrauter Stätte… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[4] …denn, wohin immer wir kommen, überall wird uns die Bruderhand grüßen… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[5] Ritual der Beförderung, GLvÖ

[6] Ebd.

[7] Cf.: z.B. Odysseus und Parzifal

[8] Le voyage est l’épreuve de l’homme, c’est à la fois une nécessité de sa condition, le moyen de sa émancipation, l’occasion de faire ses preuves, de découvrir d’autres aspects du monde et de soi-même. Si la patience est l’épreuve du sage, le voyage est la voie de la connaissance. Ligou D., Dictionnaire de la Franc-Maçonnerie

[9] …hier wartet Arbeit, klopfen wir an… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[10] …ich aber sage euch…, ich aber gebe euch dieses mit… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[11]Sie haben sich selbst gesehen und erkennen nun an sich, was sie an anderen tadeln…, (Rituale GLvÖ)

[12] …das Feuer des Flammenden Sterns. Sei es Euch allen ein Leuchtfeuer im Leben, eine Quelle innerer Wärme. Sei es die ewige Flamme… (Ritual der Beförderung, GLvÖ)

[13] Ritual der Großloge zur Sonne

[14] Eliphas Lévi, transzedentale Magie

[15] Reuss Theodor, Unterweisung im Gesellengrad, Instruktion 1927

[16] Zitiert nach: Troxler Eduard; wer die Geometrie nicht beherrscht, möge hier nicht eintreten; Schweizer Freimaurerrundschau: August/September 2003

[17] Troxler Eduard; wer die Geometrie nicht beherrscht, möge hier nicht eintreten; Schweizer Freimaurerrundschau: August/September 2003

Moral ohne Gott

In meiner Zeichnung beziehe ich mich auf folgende Definitionen.

  • Unter Moral verstehe ich alle Werte, Normen und Prinzipien, die menschliches Handeln unter dem Gesichtspunkt von „gut“ und „böse“, bzw. „verantwortbar“ und „unverantwortlich“ auszeichnen und regeln.
  • Unter Ethik verstehe ich die Theorie und Begrün­dung der Moral.
  • Unter Religion verstehe ich die lebensprägende Aner­kennung und Verehrung einer letzten, absoluten Wirklichkeit, wie dies etwa in den drei großen monotheistischen Religionen durch den Gottesbezug zum Ausdruck gebracht wird.

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewskij schreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ aus dem Jahre 1880: Wenn man den Glauben der Menschheit an die eigene Unsterblichkeit vernichtete, würde in ihr sofort nicht nur die Liebe versiegen, sondern auch jede lebendige Kraft, das irdische Leben fortzusetzen. Nicht genug damit: Dann würde es nichts Unsittliches mehr geben, alles wäre erlaubt, sogar die Menschenfresserei […]: denn, wenn es keinen Gott gibt, wie könnte es dann ein Verbrechen geben? […] Aber was soll dann der Mensch beginnen? Ohne Gott und ohne Leben nach dem Tode? Jetzt ist wohl alles erlaubt, und man darf alles tun?[1] Der französische Existenzialist Jean-Paul Sartre hat im 20. Jahrhundert diese so scheinbar beunruhigende Vermutung auf die vielzitierte Formel gebracht: Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt.[2] Die Grundidee ist hier, dass die Objektivität der Moral durch die Existenz Gottes und seines normsetzenden Willens garantiert werde. Gott sei der Grund und Ursprung moralischer Werte und Normen. Ohne Gott und seine Autorität wäre der moralische Nihilismus die letzte Wahrheit.

Dass alles erlaubt ist, wenn es Gott nicht gibt – dieses Gespenst geistert nicht nur durch die Köpfe vergangener Jahrhunderte. Es geht auch in der Gegenwart um. So schrieb etwa Papst Johannes Paul II: Wenn der Mensch allein, ohne Gott, entscheiden kann, was gut und was böse ist, kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist. Derartige Entscheidungen wurden zum Beispiel im Dritten Reich gefällt. […] Vergleichbare Entscheidungen wurden in der Sowjetunion getroffen. […] So zu leben, als ob Gott nicht existierte, bedeutet, außerhalb der Koordinaten von Gut und Böse zu leben.[3] Ähnliches sagt Papst Benedikt XVI., von der ethischen Kraft traditioneller Weltbilder überzeugt. Wie die Geschichte beweise, laufe die Vernunft aus dem Ruder, sobald sie sich von Gott lossage. Für Benedikt XVI. reichen Wissenschaft und Vernunft nicht aus, um eine tragende Moral zu entwickeln.

Religiöse Überzeugungen können in negativer oder in positiver Weise mo­tivieren. Die negative Motivation könnte zum Beispiel darin bestehen, un­moralisches Verhalten zu unterlassen, weil man Angst vor einer göttlichen Strafe in diesem Leben oder nach dem Tod hat. Auch wenn weltliche Sank­tionsmechanismen versagen, das letzte Gericht bringt alles ans Licht. Eine positive Motivation wäre etwa, dass man moralisch handelt und persönliche Nachteile in Kauf nimmt, weil man Gott gefallen möchte oder sich dadurch eine göttliche Belohnung erwartet, zum Beispiel die ewige Glückseligkeit im Himmel. In diesem Zusammenhang bezeichnet Hans Albert[4] Religionen als Heilstechnologien. Diese ver­mitteln Informationen über diejenigen Mittel, die zu gebrauchen sind, um das religiöse Ziel, nämlich das Heil, zu erlangen.[5] In vielen Religionen scheint eine moralische Lebensführung ein wichtiges Mittel zu sein, um das Heilsziel zu erlangen.

Der französische Philosoph, André Comte-Sponville argumentiert gegen solche Überlegungen so: Der Gläubige, der die Moral nur respektiert, weil er auf das Paradies hofft oder die Hölle fürchtet, ist nicht tugendhaft. Er ist lediglich egoistisch und vorsichtig. […] Selbst, wenn es Gott nicht gäbe, selbst, wenn nach dem Tod nichts wäre, würde dich das nicht davon entbinden, deine Pflicht zu tun, das heißt, menschlich zu handeln.[6]

Derzeit erlebt das Berufen auf die jüdisch-christlichen Wurzeln der sogenannten europäischen Werte eine Renaissance. Es sei doch zweifelhaft, so wird argumentiert, ob Moral und Ethik ihre Grund­lagen aus eigenen Ressourcen schaffen könnten. Religiöse Überlieferungen seien für die Begründung moralischer Normen unverzichtbar, die einer nichtreligiösen oder nachmetaphysischen Recht­fertigung unzugänglich blieben. Ethik habe die Religion als tragende Macht zur Absicherung ihrer Geltungsansprüche nötig. Aber befinden sich Moral und Ethik tatsächlich in einem Begründungsnotstand, der sich nur durch Religion beheben lässt? Oder genügt bereits das Vertrauen in die eigene Kraft der Ethik, um Werte und Normen zu begründen und uns zu deren Einhaltung motivieren zu können?

Gerne werden die Ziele und Werte der europäischen Aufklärung auf jüdisch-christliche Ideen zurückgeführt, doch die moralische Forderung, auch Goldene Regel genannt, dass man anderen Menschen nichts antun dürfe, was man selbst nicht erleiden möchte, gibt es in praktisch allen Religionen, im Zarathustrismus, im Konfuzianismus, im Hinduismus, im Buddhismus und im Islam.

Die Vorstellung, dass unsere moralischen Grundwerte aus einer religiösen Tradition entspringen, in Europa aus einer christlichen Tradition, erscheint mir jedoch überaus problematisch. Denn dieser These folgend, müssten diese moralischen Grundwerte schwächer werden, in dem Maß als die Zahl der ernsthaft religiösen Menschen in Westeuropa insgesamt weniger wird. Aber ethische Werte sind nicht ihrer Herkunft verpflichtet. Eines ist ihr Ursprung, ein anderes ist ihre Geltung.

Zu denken gibt auch die Tatsache, dass viele christlich getaufte Menschen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart von politischen Führungen dazu missbraucht werden konnten, Grausamkeiten zu begehen, die einem christlichen Ethos fundamental widersprechen. Erst recht müssen die im Namen der Religionen begangenen Verbrechen erschüttern. Wie viele religiöse Eiferer in der Vergangenheit und fanatische Terroristen in der Gegenwart berufen sich auf den Auftrag Gottes, um anderen Menschen Leid zuzufügen. Beispiele dafür gibt es genug in der Geschichte. Da bin ich versucht Dostojewskijs Formel, wenn es Gott nicht gibt, umzukehren in die Formulierung, gerade wenn es Gott gibt, scheint alles erlaubt zu sein. In diesem Zusammenhang bezeichnet Arthur Schopenhauer Priester als Vermittler des Handels mit bestechlichen Göttern.[7]

Die Bedeutung von Religion als Quelle moralischer Orientierung nimmt in Westeuropa stetig ab. Gleichzeitig verstehen sich die Demokratien Europas als säkulare Staaten und Gesellschaften, in denen Religion eine Sache der Privatsphäre ist. Religion kann in einer säkularen Welt nicht zur Leitinstanz von Staat, Politik und Recht werden. Das ist nur in theokratischen Gesellschaften, den sogenannten Gottesstaaten möglich, in denen es eine Staatsreligion gibt. In einer säkularen Gesellschaft verbürgt der Staat lediglich, dass jeder glauben kann, was er möchte, was aber umgekehrt bedeutet, an gar nichts zu glauben.

Es mag sein, dass die Traditionen einer Religion die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit unterstützen. In einer multikulturellen Gesellschaft lassen sich jedoch Werte wie Freiheit und Gleichheit und somit auch Toleranz und Solidarität nicht mehr für alle Bürger auf verbindliche Weise religiös begründen. Religion ist Privatangelegenheit und niemand darf zu einem religiösen Bekenntnis gezwungen werden. In einer offenen Gesellschaft muss die Achtung vor dem göttlichen Willen der Einhaltung bürgerlicher Tugenden und der Verteidigung ethischer Werte untergeordnet bleiben. Auch wenn die Religionsfreiheit einer offenen Gesellschaft ihre Haltung erst ermöglicht, neigen tief religiöse Menschen dazu, die säkulare Welt als einen Irrläufer der Geschichte zu beurteilen. Der Hamburger Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma drückt das so aus: Für einen religiösen Menschen ist eine säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft des Irrtums. Diese Ansicht teilt die Geistlichkeit Teherans mit der orthodoxen Geistlichkeit Jerusalems und der Geistlichkeit Roms. Diese säkulare Gesellschaft zu bekämpfen ist ein klares Ziel islamistischer Gruppen überall in der Welt […], und sie weltweit zu bekämpfen war das erklärte Ziel des [vor kurzem] verstorbenen Papstes Johannes Paul II.[8] Bürgertugenden und Werte müssen sich jedoch aus einer weltlichen Moral begründen lassen. Dennoch hat in der Geschichte fast jede Gesellschaft ihre Normen göttlich beglaubigen lassen.

Meines Erachtens gibt es drei Gründe, warum Menschen die Gebote eines Gottes erfüllen sollen. Die einen sagen der himmlischen Belohnungen wegen oder zur Vorbeugung göttlicher Bestrafungen, mit denen bei Verstößen gegen diese Gebote zur rechnen wäre. Für André Comte-Sponville gehört dieses Verhalten nicht in den Geltungsbereich der Moral, sondern sei Vorsicht und Heuchelei. Er sagt: Was ist Deine Moral? Das, was Du von Dir verlangst, unabhängig vom Blick der anderen oder von dieser oder jener Drohung.[9]  Gleichzeitig ist die Furcht vor göttlicher Sanktion ein wichtiges Instrument der Sozialkontrolle. Aber wenn dieses Instrument effektiv ist, dann untergräbt es das moralische Bewusstsein.

Andere meinen, als Gottes Geschöpfe sollten wir die Gebote achten aus Liebe und Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber. Dritte schließlich finden, wir sollten die Gebote befolgen, weil sie moralisch richtig sind.

Allerdings stellte schon Platon im Dialog Euthyphron die Frage, sind die Gebote moralisch richtig, weil Gott sie befiehlt? Oder befiehlt sie Gott, weil sie moralisch richtig sind? Die Antworten auf diese Fragen sind verhängnisvoll für jede Art religiöser Ethik. Wären Gebote, wie du sollst nicht stehlen, nicht lügen, nicht morden, deshalb richtig, weil Gott sie befiehlt, dann hätte Gott ebenso willkürlich auch Lügen, Stehlen, Morden als gut definieren und anschließend als Gebote aufstellen können. Diese Überlegung erscheint widersinnig und absurd. Für mich erscheint es daher unannehmbar, dass moralische Forderungen nur deshalb richtig sind, weil Gott sie befiehlt. Befiehlt allerdings Gott seine Gebote, weil diese apriori moralisch richtig sind, so wäre zwar seine Entscheidung nicht mehr beliebig, aber Gott wäre als Begründung für moralische Forderungen nicht mehr notwendig. Moral und Anstand verkämen zu Willkürentscheidungen einer nicht hinterfragbaren Autorität. Eine objektive Moral wäre dadurch nicht gewährleistet, denn woran ließe sich ein guter Gott noch von einem bösartigen Gott unterscheiden? Das Prädikat der „Güte“ könnte sich mit gleichem Recht der Teufel ausstellen. Damit ist Moralphilosophie ohne Rückgriff auf Gott möglich.

Der Philosoph Norbert Hoerster geht noch einen Schritt weiter, für ihn ist Gott nicht einmal für die Erkenntnis von Gut und Böse notwendig. Wir gehen davon aus, dass Gott in jeder, also auch in moralischer Hinsicht vollkommen ist. Können wir aber von einem Weltschöpfer behaupten, er sei moralisch vollkommen, ohne dass wir dabei eine gewisse Vorstellung von moralischer Vollkommenheit – und damit auch von begründeter Moral – bereits voraussetzen? Offenbar nicht. Das aber bedeutet, bereits unsere Annahme der Existenz Gottes ist unmöglich, ohne dass in diese Annahme notwendig ein moralisches Werturteil eingeht. Wenn das aber so ist, dann können wir nicht gleichzeitig all unsere moralischen Maßstäbe aus der Existenz Gottes bzw. aus seinen Geboten ableiten. Damit wir die Hypothese der Existenz Gottes als eines moralisch vollkommenen Wesens überhaupt aufstellen können, müssen wir unbedingt bereits einen gewissen Maßstab von Gut und Böse haben. Denn ohne diesen Maßstab wäre die Annahme, dass der existente göttliche Normgeber auch vollkommen gut ist, leer und sinnlos[10].

Es ist heute überwiegende Meinung der Moralphilosophen, dass Gott weder zur Erkenntnis von Werten noch zur Begründung von Normen erforderlich ist. Glaube an Gott sei nicht einmal zu moralischem Verhalten notwendig. Moral und Ethik kommen ohne jeden Bezug auf religiöse Überlieferungen aus, wie schon Immanuel Kant wusste: Die Moral bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über sich, um die Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Sit­tengesetzes selbst. Sie bedarf also […] keineswegs der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.[11] Werte brauchen keinen Gott, sie entwickeln sich historisch mit dem Fortschritt der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Moral, der Gesetze, der Philosophie.

Dass Religion und Moral zusammengehören, ist ein lange gepflegtes Vorurteil. Auf der Welt es gibt viele verschiedene Religionen und es gibt bestimmte Verhaltensweisen, die wir überall auf dieser Welt finden. So ist es gleichgültig, welche Kultur oder welche Religion wir betrachten, überall werden wir einige gleichartige oder ähnliche Regeln finden. Das ist vollkommen losgelöst von der praktizierten Religion überall so.

Unabhängig davon, ob Gott tatsächlich existiert, gibt es also Werte, deren Sinnhaftigkeit erkannt werden kann. Diese Werte legen nicht nur fest, was gut ist, sondern definieren auch, was zu tun ist. Im Idealfall bringen sie Menschen auch dazu, diese Regeln zu befolgen. Voraussetzung ist, dass sich Gebote wie – du sollst nicht töten, du sollt nicht lügen – als an sich moralisch begründen lassen. Diese müssten als objektive Werte, unabhängig von unseren persönlichen Interessen gelten. Alle Menschen leben in einem mehr oder weniger festen Sitten-, Moral- und Wertegefüge, das klar macht, was erlaubt sei und was eben nicht. Es reicht die Orientierung an der Vernunft; und es gibt Gesetze, an die sich jeder Bürger zu halten habe.

Allerdings sind diese objektiven sittlichen Werte, losgelöst von menschlichen Bedürfnissen und Wünschen ein seltsames Gedankenkonstrukt; genaugenommen gibt es sie gar nicht, denn dann wären sie genauso übernatürlich wie Gott. Jean-Paul Sartre formuliert das so, …wir haben weder hinter uns noch vor uns ein Lichtreich der Werte, Rechtfertigungen und Entschuldigungen. Wir sind allein. Das ist es, was ich durch die Worte ausdrücken will. Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut.[12]

Folgen wir Sartre, so sind alle sittlichen Werte und Normen ausschließlich von Menschen gemacht. Das Ziel dieser Normen ist, die Beziehungen zwischen den Menschen zu regulieren und bestimmte Verhaltensweisen oft gegen rücksichtslose Neigungen zu kontrollieren. Sie dienen dem friedlichen Zusammenleben der Menschen. Werte und Normen sind nicht aus sich selbst moralisch; es lassen sich jedoch gute Gründe anführen, warum der Einzelne solche Gebote vertreten, akzeptieren und befolgen sollte.

Das Fehlen objektiver Werte impliziert weder ethische Willkür, noch das Fehlen eines Maßstabs, noch Irrationalismus[13]. Ganz im Gegenteil, naturalistisch-humanistische Ethiken setzen auf unabhängig-kritisches Denken und auf die Einsicht in Notwendigkeiten, die für ein gedeihliches Zusammenleben erforderlich sind. Sie fragen danach, welche Gebote den Menschen nützen statt irgendwelchen gefallsüchtigen Herrschern oder Göttern. Ihre rationale Grundlage besteht in der Hinwendung zum Kritisierbarkeitsprinzip und zum sozialpragmatischen Kriterium des Wohlergehens aller Personen.[14]

Norbert Hoerster argumentiert so: Wir gehen davon aus, dass jedermann unter normalen Bedingungen ein Interesse am eigenen Überleben hat, also ein Interesse daran, dass er nicht getötet wird. Dieses Interesse haben auch diejenigen Individuen, die gelegentlich vielleicht aus irgendeinem Grund einen anderen Menschen töten möchten. Dabei ist ihnen bei langfristiger Betrachtung das Interesse, dass sie nicht getötet werden, wichtiger als der gelegentliche Wunsch zu töten. Auch sie profitieren deshalb auf der Basis ihrer Interessen wie alle anderen Individuen auch davon, dass eine Norm des Inhalts „Man soll nicht töten“ in der Gesellschaft weitgehend befolgt wird. Insofern ist es für jedes Individuum subjektiv begründet, diese Norm in der Praxis zu vertreten und zu akzeptieren und sie durch diese Verhaltensweisen in ihrer Geltung und Wirksamkeit zu stützen und zu festigen. Ganz im Sinn dieser Argumentation würden […] auch im moralischen Alltag nicht wenige Menschen auf die Frage, warum das Töten denn zu verbieten sei, mit der Gegenfrage antworten: „Möchten Sie in einer Gesellschaft leben, in der das Töten nicht verboten ist?“[15]

Auch wenn Werte und Normen sich nicht als an sich gültig begründen lassen, so kann doch gut begründet werden, warum es für den Einzelnen sinnvoll ist, bestimmte Werte und Normen zu vertreten, zu akzeptieren und zu befolgen. Die Grundlage für allgemeinverbindliche Werte können in einer säkularen, offenen Gesellschaft daher nur solche sein, die allen Menschen gemeinsam sind. Grundwerte und Moralnormen müssen intersubjektiv begründbar sein, um als allgemeinverbindlich angenommen zu werden. Es geht darum, gemeinsame Interessen zu definieren und diese in Aufforderungen zu bestimmten Verhaltensweisen zu verwandeln.

Letztlich müssen Gesellschaften moralische Grundsätze triftig aus zuvor festgelegten gesellschaftlichen Zielen ableiten (Dezisionismus). Auch Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen können sich auf die für ein geordnetes Zusammenleben in Glück, Frieden und Freiheit erforderlichen Regeln einigen. Diese Regeln sind zwar ebenso wenig objektivierbar und absolut wie alle anderen Ethiken. Aber da Menschen Schmerzen vermeiden und ihre Freude maximieren möchten, ist eine Sozialstruktur, die für diese Maximen einsteht, ethisch legitim. Umgekehrt wäre es fatal, wenn unsere Moral von Gott abhinge. Dann verflüchtigte sich bei berechtigten Zweifeln am metaphysischen Überbau die Moral.

Leben und Überleben, körperliche Unversehrtheit, Bewegungs- und Handlungsfreiheit, Schutz vor Übergriffen anderer oder des Staates, Schutz vor Diebstahl sowie Einhalten von Versprechen und Verträgen sind Interessen, auf die sich die meisten Menschen wahrscheinlich einigen können, die die allermeisten Menschen miteinander verbinden. Garantie gibt es jedoch dafür keine.

Warum sollte jedoch das Wohl der Mitmenschen ein Anliegen des Einzelnen sein? Zum einen sollte uns am Wohl der anderen schon aus recht verstandenem Eigeninteresse, gelegen sein. Wir sollten schon deshalb wollen, dass auch anderen gewährt wird, was wir für uns selbst als Mindeststandard zum Leben beanspruchen, weil wir nur so die Erfüllung unserer eigenen Wünsche und Interessen dauerhaft sichern können. Zum anderen sollte uns am Wohlergehen unserer Mitmenschen gelegen sein aus der einfachen Überlegung, dass Not, Schmerz und Erniedrigung für andere nicht weniger wiegen als für einen selbst – wie umgekehrt die eigenen Wünsche und In­te­ressen nicht einfach deshalb mehr zählen als die anderer Menschen, nur weil sie die eigenen sind. Eine solch ethische Grundhaltung setzt allerdings – bildhaft formuliert – einen Schritt zur Seite voraus: einen Abstand zu sich selbst, ein Absehen von eigenen Wünschen und Neigungen. Denn erst so wird man fähig, sich in die Lage anderer zu versetzen und auch deren Vorlieben und Ide­ale zu berücksichtigen, soweit sie sozialverträglich sind. Jedenfalls erwacht dann fast zwangsläufig die allgemeine Erkenntnis, dass Schmerz, Leid, Elend, Erniedrigung und Unterdrückung nicht nur für mich, sondern für alle etwas Schlimmes sind.

Einsichten allein bewegen Menschen noch lange nicht, sich auch uneigennützig zu verhalten. Es braucht innere Selbstbindung an moralische Grundsätze, die eine mühsame Kleinarbeit der Aufklärung und Erziehung zu gegenseitiger Achtung, Gespräche- und Hilfsbereitschaft notwendig machen. In das, was gut und richtig ist, muss der Mensch erst hineinwachsen. Es geht nicht um im Gehorsam gegen einen Gott, sondern um eine vernünftige Entscheidung.

Wir müssen auf das Beste hoffen und gleichzeitig mit dem Schlimmsten rechnen; denn nicht jeder bindet sich freiwillig an ethische Leitlinien. Im Gegenteil, es scheint auch Menschen zu geben, denen Unrechtsempfinden und Wohlwollen fremd sind, die von allen guten Geistern verlassen zu sein scheinen.

Da Ethik per se – ebenso wie Religion – keine Durchsetzungskraft hat, kann sich eine Gesellschaft in so einem Fall nur rechtlich schützen. Daher brauchen wir vernünftige und durchsetzungsfähige Rechtsinstitutionen, um Menschen, die von allen guten Geistern verlassen zu sein scheinen, in die Schranken zu weisen. Artur Schopenhauer schlägt folgendes Beispiel vor. Nehmen wir etwa an, sagt Schopenhauer, es würden plötzlich durch öffentliche Proklamationen alle Kriminalgesetze für aufgehoben erklärt, so würde schwerlich jemand den Mut haben, unter dem bloßen Schutz der religiösen Motive auch nur allein nach Hause zu gehen.[16]

Einen souveränen waltenden Gott hingegen braucht ein funktionierendes menschliches Gemeinwesen nicht. Die Zehn Gebote, insbesondere die das zwischenmenschliche Leben regelnden Nummer vier bis zehn, du sollst nicht töten, nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut und so weiter, gibt es nicht etwa, weil Gott sie erlassen hat und sie nur deshalb gut sind. Diese Gebote sind von sich aus gut und in Abwandlung daher auch in vielen anderen Kulturen zu finden. Daher sind sie auch ohne einen legitimierenden Gott gültig. Comte-Sponville: Nicht, weil es Gott gibt, muss ich Gutes tun, sondern weil ich Gutes tun muss, kann ich das Bedürfnis haben, an Gott zu glauben – nicht um tugendhaft zu sein, sondern um nicht zu verzweifeln[17], ähnlich auch Kant, für den Moral unumgänglich zu Religion führt.

Menschen sind nicht ausschließlich gut oder böse, sie existieren zwischen beiden Polen. Gegenseitige Achtung, Fairness und Hilfsbereitschaft gehören ebenso zu ihrer Lebenswirklichkeit wie Korruption, Klüngel und Hartherzigkeit; die menschliche Gesellschaft besteht weder nur aus Engeln noch allein aus Teufeln. Der Mensch ist keineswegs bloß ein irrationales, von Gefühlen und Leidenschaften bewegtes Wesen, sondern er lebt ebenfalls unter dem Zepter von Verstand und Wohlwollen, bricht nicht nur Versprechen, sondern hält sie auch. Hierzu noch einmal Norbert Hoerster: Man muss sich von einer verbreiteten Vorstellung verabschieden, die den Anhängern einer Ethik, die ihre Begründung auf die Interessen urteilsfähiger und informierter Menschen stützt, immer wieder unterstellt wird: die Vorstellung, dass die einzigen Interessen, die einem Individuum sinnvollerweise zugeschrieben werden können, egoistische Interessen, also Interessen am eigenen Wohlergehen bzw. an der Befriedigung künftiger eigener Interessen sind. Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, dass Menschen – ganz unabhängig von jeglicher Moral – neben egoistischen auch altruistischen, ja oft sogar auch ideellen Interessen haben und dass die Realisierung dieser Interessen für sie nicht weniger rational ist. Die altruistischen Interessen finden sich vor allem im Nahbereich, gegenüber Verwandten und persönlich nahestehenden Menschen. Aber auch im Fernbereich haben viele Menschen gewisse, wenn auch im Vergleich zum Nahbereich stark abgeschwächte altruis­tische Interessen. Dass ich in einer Notlage wie etwa einer Flutkatastrophe vor allem an mich selbst, an meine Familie und an meine mir befreundeten Nachbarn denke, bedeutet nicht, dass mir das Schicksal der übrigen Opfer völlig gleichgültig ist und dass ich ihnen gegenüber nicht zur der geringsten freiwilligen Hilfsmaßnahme bereit bin.[18]

Eigennutz oder Selbstinteresse, ist das natürliche Motiv aller Lebewesen[19] und daher auch des Menschen[20]; er ist kein anrüchiges Element der Evolution, welches überwunden werden muss. Eigennutz tritt in der Natur in drei typischen, unterschiedlichen Formen auf

  • rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten anderer
  • altruistisches Verhalten zu Gunsten Verwandter oder potentieller Sexualpartner
  • strategische Kooperationsbereitschaft gegenüber gleich- und höherrangigen Artgenossen.

Das Prinzip Eigennutz ist ethisch neutral, es ist die Grundlage von Hass und Liebe genauso wie von Krieg und Frieden oder Ausbeutung und Solidarität. Gegenüber dem Tierreich kommt beim Menschen noch ein Faktor hinzu, die Empathiefähigkeit[21], die Fähigkeit zu Mit-leid bzw. Mit-freude. Empathievermögen ist gleichzeitig genauso die Fähigkeit für erfolgreiches Lügen und Intrigieren wie für altruistisches Verhalten. Damit erst wird es möglich, dass sich Menschen unter bestimmten Voraussetzungen bereitfinden, ihr Leben für eine höhere Sache aufs Spiel zu setzen oder Verzicht zu leisten. Was im Einzelnen den Eigennutz ausmacht, ist abhängig von kulturellen Vorgaben, Moden, Traditionen, Philosophien, Ideologien und Religionen.

Handlungen aus Mitleid oder aus Mitfreude stellen eine besonders interessante Form eigennützigen Verhaltens dar. Auch beim mitfühlenden Eigennutz geht es um das eigene Wohl und Wehe, allerdings wird hier insbesondere fremdes Leid so stark wahrgenommen, dass es zum eigenen Besten ist, fremdes Leid zu bekämpfen. Seit der Entdeckung der Spiegelneuronen[22] wissen wir, dass fremdes Leid als eigenes, als selbst erlebtes Leid wahrgenommen wird.

Trotzdem sind der Wirksamkeit jeder Ethik klare Grenzen gezogen. Wem die einfache Forderung nicht bereits einleuchtet, dass materielle Unterversorgung, geistige Bevormundung und Verhinderung der persönlichen Entwicklung aufgehoben werden sollten, der wird sich von religiösen Geboten und noch so spitzfindigen, philosophischen Begründungen hierfür ebenso wenig beeindrucken oder gar bewegen lassen. Wem die bestehenden Missstände und die Not der Menschen nicht schon als Argument für ethisches Handeln genügen, dem wird mehr sicherlich auch nicht reichen, selbst wenn es ein höchstes Gottesgebot wäre. Allein wir Menschen können mehr freundliche Wärme in die vor Kälteeinbrüchen ungesicherte Welt bringen.

Das menschliche Leben steht in der Spannung von Sterblichkeit und Selbst­bewusstsein. Menschen erleben sich als vergänglich und verwundbar. Die Unausweichlichkeit des Todes ist die letzte Gewissheit des Menschen. Was nach dem Tod eines Menschen geschieht, wissen wir nicht. Ob es nach dem Tod ein Ewiges Leben mit Belohnung für gute Taten im Paradies oder mit Strafen für böse Taten in der Hölle gibt, ob es eine Wiedergeburt in welcher Gestalt auch immer oder einfach gar nichts gibt, bleibt immer Spekulation. Die einzige Gewissheit ist die endliche Dauer eines (Menschen)lebens. Nicht die Erinnerung an eine vergangene Offenbarung des Richtigen noch die Erwartung auf eine zukünftige Erlösung von allen Übeln, sondern nur die alle umfassende Vergegenwärtigung berechtigter Interessen vermag die moralische Rücksichtnahme in einer dem objektiven Anspruch moralischer Verpflichtungen entsprechenden unparteilichen Weise einzulösen.[23] Moral in Bezug auf die Endlichkeit eines Menschenlebens hat keinen und braucht auch keinen transzendentalen Anker.

Wir sollten daher danach trachten ein „gutes“ Leben zu führen, das nach Bertrand Russell (1872 – 1970) von Liebe inspiriert und von Erkenntnis geleitet wird.[24] Leben bedeutet eine Aufgabe im Hier und Jetzt. Gerade die Endlichkeit des Lebens beinhaltet den Auftrag, eine tragfähige Ethik zu entwickeln und gemäß solcher Regeln ein moralisch gutes Leben zu leben. Motivation ist die Verantwortung für mich selbst und meine Verantwortung für Welt und Mitmenschen, …nicht im Sinn eines Gottes sondern ganz im Sinne des Menschen.[25]

In der Erhebung zum Meister haben wir einen klaren Auftrag erhalten: …möge der Maurer, wenn die letzte Stunde, die Stunde der Wahrheit, gekommen ist, auf gute Arbeit und ein erfülltes Leben zurückblicken können[26] Während unseres Lebens als Brr... Freimaurer erhalten wir die Werkzeuge um gemeinsam mit den Brr... diese Ethik, die wohl nur eine Verantwortungsethik und nie eine reine Gesinnungsethik sein kann, zu entwickeln. In der FM-ei ist das Sittengesetz negativ bestimmt, das heißt ohne inhaltliche Definition. Die negative Bestimmung wird damit zur Gewähr dafür, dass nicht übernatürliche Autoritäten die moralischen Inhalte definieren, sondern dass diese aus der Praxis für die Praxis menschlichen Lebens entstehen. Mit diesem Tun in der Praxis beschäftigt sich Tugendethik; die rituelle Arbeit im Tempel ist die perfekte Gelegenheit, diese Ethik auch zu üben (Einübungsethik[27]).

[1] Dostojewskij F. M.; die Brüder Karamasov

[2] Sartre J.-P.; l’Existentialisme est un Humanisme

[3] https://www.welt.de/print-welt/article473111/Gott-die-Welt-und-das-Boese.html, Zugriff 10.02.2020, 08.30 hrs

[4] Hans Albert, geboren 8. Februar 1921, deutscher Soziologe, Philosoph und Hochschullehrer, er gilt als ein Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus

[5] Albert H. Glaube und Heilsgewissheit

[6] Comte-Sponville A; Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg

[7] Grisebach E., Arthur Schopenhauers sämtliche Werke in 6 Bänden, Leipzig 1891

[8] https://monde-diplomatique.de/artikel/!562539; Zugriff 09.02.2020; 10.55hrs

[9] Comte-Sponville A.; Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg

[10] Hoerster N.; die Frage nach Gott; Beck’sche Reihe

[11] Zitiert nach https://www.google.com/search?q=S%C3%9CDWESTRUNDFUNK+SWR2+Wissen+-+Manuskriptdienst+Gottlose+Moral+%E2%80%93+Ethik+ohne+Religion&rlz=1C1RUCY_deAT832AT832&oq=S%C3%9CDWESTRUNDFUNK+SWR2+Wissen+-+Manuskriptdienst+Gottlose+Moral+%E2%80%93+Ethik+ohne+Religion&aqs=chrome..69i57.4167j0j1&sourceid=chrome&ie=UTF-8, Zugriff 17.02.2020, 12.00hrs

[12] Sartre J.-P.; l’Existentialisme est un Humanisme

[13] Mackie, J. L.; Ethics, inventing right and wrong. Penguin Books, London

[14] Sukopp T.; Menschenrechte: Anspruch und Wirklichkeit. Tectum-Verlag

[15] Zitiert nach https://www.google.com/search?q=S%C3%9CDWESTRUNDFUNK+SWR2+Wissen+-+Manuskriptdienst+Gottlose+Moral+%E2%80%93+Ethik+ohne+Religion&rlz=1C1RUCY_deAT832AT832&oq=S%C3%9CDWESTRUNDFUNK+SWR2+Wissen+-+Manuskriptdienst+Gottlose+Moral+%E2%80%93+Ethik+ohne+Religion&aqs=chrome..69i57.4167j0j1&sourceid=chrome&ie=UTF-8, Zugriff 17.02.2020, 12.00hrs

[16] http://www.arthur-schopenhauer-studienkreis.de/Religion-Moral/religion-moral.html Zugriff 03.02.2020, 20.00 hrs

[17] Comte Sponville A; Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg

[18] Zitiert nach https://www.google.com/search?q=S%C3%9CDWESTRUNDFUNK+SWR2+Wissen+-+Manuskriptdienst+Gottlose+Moral+%E2%80%93+Ethik+ohne+Religion&rlz=1C1RUCY_deAT832AT832&oq=S%C3%9CDWESTRUNDFUNK+SWR2+Wissen+-+Manuskriptdienst+Gottlose+Moral+%E2%80%93+Ethik+ohne+Religion&aqs=chrome..69i57.4167j0j1&sourceid=chrome&ie=UTF-8, Zugriff 17.02.2020, 12.00hrs

[19] Höffe Otfried, Lexikon der Ethik, Verlag C.H.Beck, siebente Auflage 2008, Stichwort „Selbstinteresse“

[20] Cf Hobbes Thomas, Leviathan Kapitel 6 & 13

[21] Cf. Hume David, Traktat über die menschliche Natur 1739; Smith Adam, Theorie der menschlichen Gefühle, 1759; Schopenhauer Arthur, Preisschrift über die Grundlagen der Moral, 1840

[22] Spiegelneuronen wurden 1996 erstmals vom italienischen Hirnforscher Giacomo Rizzolati bei Primaten entdeckt und wenig später im menschlichen Gehirn nachgewiesen

[23] Lohmann G. Moral und Zeit, in: Der Sinn der Zeit, hrsg. Von Angehrn E., Iber C., Lohmann G. Poccai R.; 2002

[24] Russell B.: Why I am Not a Christian, London 1967

[25] Gardavsky, Vitezslav, Gott ist nicht ganz tot. Betrachtungen eines Marxisten über Bibel, Religion und Atheismus, München 1968

[26] Ritual der Erhebung, GLvÖ

[27] Hammacher K.; Einübungsethik – Überlegungen zu einer freimaurerischen Verhaltenslehre.; Festschrift zum 75. Geburtstag des Autors, Schriftenreihe der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth Nr. 45/2005

der blutige Gott – das Opfer

Es gibt praktisch keine Religion, die kein Opferritual als religiöse Handlung kennt; diese entspringt offenbar einem naturhaften Urverlangen des Menschen. Dieses Verlangen treibt ihn dazu einem für heilig gehaltenen, übermächtigen Wesen, sei es als weltimmanente Naturkraft oder als transzendente Gottheit vorgestellt, eine aus seinem Eigentum abgesonderte, wertvolle Gabe als Geschenk anzubieten. Der Mensch tut dies, um mit der heiligen Macht bzw. Gottheit in Kontakt zu kommen, mit ihr zu kommunizieren (Opfermahl), ihrer Kraft habhaft zu werden, sie günstig zu stimmen oder ihre negative ihm schädliche Energie abzuwenden, ihren Zorn zu besänftigen und für begangenes Unrecht Sühne zu leisten. (Lexikon für Theologie und Kirche). Warum sind die Götter – alle Götter – so fordernd? Sie fordern Blut, Wein Fett, Milch, Ochsen, Lämmer, Tauben und vor allem Menschenfleisch; alte und junge Menschen, Männer, (Jung-) Frauen und Kinder. Woher kommt dieses Bild einer schrecklichen himmlischen Macht, die doch eigentlich alle und alles schützen sollte?

 

Alle Religionen erklären ihre Götter als allmächtig, allwissend und gestehen ihnen die uneingeschränkte Macht zu, Katastrophen, Erdbeben, Überschwemmungen und Hungersnöte, Kriege und Vulkanausbrüche auszulösen. Wenn diese Götter nun alles besitzen und alles vermögen, warum müssen dann die Menschen bei jeder Gelegen­heit, wenn sie etwas Besonderes und/oder Lebenswichtiges – wie Ernte, Aussaat, Hochzeit, Geburt – vorhaben, auf einem Altar etwas vom Besten, das sie haben, diesem schrecklichen, alles verschlingenden Rachen im Himmel opfern. Die Gottheit ist stärker; sie muss man fürchten, sie muss man besänftigen. Letzter Garant für Frieden und Wohlstand kann nur die Gottheit sein. Auf ihre Gunst ist man angewiesen, ihr Zorn ist tödlich. Dieser muss besänftigt, jene er­rungen werden. Das archaische, zyklische Denken führt schließlich zur ständigen Wiederholung (meist im Jahresrhythmus), zum Opferkultsystem

 

Opfer sind widersprüchliche Mittel zur Lösung eines Problems, das gar nicht zu lösen ist. Sie gehen von einem grundsätzlich inadäquaten Verständnis von Gott und des Menschen Verhältnis zu ihm aus (und umgekehrt). Dieses besteht weder in einem Rechtsverhältnis (beiderseitige Zuschreibung von Rechten und Pflichten) noch in einem Tauschverhältnis (wechselseitiges Geben und Nehmen).

 

Ohne Frage haben moderne (Straf-) Gesetze die praktizierten Riten gebändigt, und so wird heute physisch außer in obskuren, kriminellen oder psychopathologischen Sekten kein Mensch mehr getötet. Ein Beispiel dafür ist die Katastrophe von Waco in den USA, wo sich vor einigen Jahren eine ganze Gruppe von Sonnentemplern in kollek­tivem Wahn selbst tötete. Trotzdem bleibt die Opferrolle, auch wenn sie meist auf die symbolische Ebene reduziert ist. In den Ritualen finden wir maximal Tier­opfer, und doch gibt es Menschen, die sich selbst opfern. Sie opfern der Gottheit ihre Sexualität, ihre persönliche Freiheit oder ihre Intelligenz. Sie fügen sich physische Schmerzen zu. Mögen die Flagellanten von Sevilla eher eine folkloristische Sensation und weniger Ausdruck der Bußbereitschaft sein, die sich selbst kreuzigenden Menschen auf den Philippinen sind durchaus Ausdruck des religiösen Fanatismus, und beim schiitischen Ashurafest geißeln Männer ihren nackten Oberkörper stundenlang mit Ketten, die in Messer auslaufen, bis Menschenblut die Erde tränkt, Menschenblut wie es in Teheran nach der islamischen Revolution unter Khomeini aus einem Brunnen floss. Frauen und Männer bewerben sich als Selbstmord­attentäter und sprengen sich oder werden im Auftrag des einzigen Gottes in die Luft gesprengt.

 

Seit den Zeiten der Großen Göttin und Großen Mutter sind die Götter für die Menschen gefühlsbegabte Zweifüßler. Ihnen muss man logischer Weise Tribut zollen, weil sie die Herren sind. In der aztekischen Mythologie zum Beispiel lag die Welt an ihrem Anfang in Finsternis. Da opferte sich ein Gott, warf sich in ein Opfer­becken voll glühender Kohlen und wurde so zur Sonne. Als sich die Sonne nicht um die Erde drehte forderte die Sonne: „Ich will euer Blut!“ Götter und Göttinnen opferten sich, um die Sonne in Bewegung zu setzen und Menschenopfer waren not­wendig, um die Sonne in ihrem Lauf nicht zu hemmen.

 

Gleichzeitig sind diese Menschenopfer Gelegenheit zum Kannibalismus. In diesen Kannibalismusritualen ist ein komplexer Symbolgehalt verborgen. Es handelt sich um Festmahle, in deren Verlauf die Menschen und die Götter ein und dieselbe Mahl­zeit teilen. Das Menschenfleisch, das sie verzehren, gilt als Verkörperung von Energie.

 

Menschenopfer sind nicht auf das präkolumbianische Amerika beschränkt, wir finden Menschenopfer auch bei den Chinesen der Bronzezeit. Diese brachten ihren Herrschern, die Statthalter eines himmlischen Mandats und damit Stellvertreter der Götter auf Erden waren, Menschenopfer dar. Beim Tod eines Herrschers richteten sie seine Frauen, Begleiter, Diener und Haustiere hin. Um die Götter gnädig zu stimmen, wenn sie wichtige Bauten, wie Tempel oder Paläste errichteten, brachten sie Menschenopfer dar. So soll die Große Mauer voll von eingemauerten Menschen sein. Wie viele Schädel-, Becken oder Oberschenkelknochen wohl unter den Palästen begraben liegen? Die Seelen der Opfer sichern die Unvergänglichkeit der Konstruktion, wie Mircea Eliade schreibt.

 

Genauso finden wir das Menschenopfer bei den Griechen und Römern. So sandten die Athener alle neun Jahre sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge nach Kreta, die dem Minotaurus geopfert wurden, um das Feuer der Sonne in Gang zu halten. Die Römer verboten Menschenopfer erst sehr spät (197 v.u.Z.) und noch im 3. Jahr­hundert v.u.Z. begruben die Römer auf dem Forum einen Gallier und eine Gallierin bei lebendigem Leib, als sie von den Venetern und Cenomanen angegriffen wurden.

 

Wir wissen von Menschenopfern bei Kelten, Dakern und Germanen. Die Opfer wurden mit Schwertern in Stücke gehauen, von Pfeilen durchbohrt oder gepfählt. Im 2. Jahrhundert v.u.Z. sollen Druiden aus der Art, wie das Opfer fiel, die Zukunft ge­lesen haben. Zur Sommersonnenwende wurde bei den Kelten ein kräftiger junger Mann mit allen Zeichen des Königtums geschmückt und an eine Eiche gebunden, dann geschlagen, bei lebendigen Leib gehäutet, geblendet oder kastriert und zum Schluss mit einem Schnitt durch die Halsschlagader getötet. Das Blut dieses Jahr­königs fingen die Feiernden auf und besprengten sich selbst und ihre Felder damit. Rituelle Tötung oder Verstümmelung, um die Fruchtbarkeit zu fördern, finden wir nicht nur bei den Kelten. Im Kongo kastrierten die Basundi einige ihrer jungen Männer zur Feier des Neumonds, von dem die Fruchtbarkeit der Menschen, Tiere und Pflanzen abhing. Die Kaffern und Hottentotten zogen die Amputation des linken Hodens vor. Vedische Völker hatten die Kastration zur Erreichung eines höheren Grades der Erleuchtung eingeführt.

 

Menschenopfer symbolisieren immer die Gottheit selbst; denn je kostbarer das Opfer ist, desto geschmeichelter ist der Gott, dem es dargebracht wird und umso größer ist das Ansehen des Opfernden in den Augen des Gottes. Besser als ein Lamm oder Schwein zu opfern, ist es, ein menschliches Wesen zu opfern; und noch besser ist es ein besonderes menschliches Wesen, eine Jungfrau zum Beispiel, zu opfern. Die größte Ehre allerdings, die einem Gott erwiesen werden kann, ist, ihm das Leben eines Gottes zu opfern. Bei dem beschriebenen aztekischen Mythos opferten sich die niedrigeren Götter selbst der Sonne.

 

Der Opfernde identifiziert sich mit dem Opfer, er bringt sich selbst dar. In einer schwedischen Überlieferung heißt es, ein König Aun habe Odin tagelang um Rat ge­fragt, bis dieser bereit war, sich zu äußern. Odins Antwort war, der König werde regieren, solange er ihm alle neun Jahre einen seiner Söhne zum Opfer bringe. Der König opferte so neun seiner zehn Söhne; als aber der zehnte an der Reihe war, widersetzte sich das Volk, und der König musste sterben. In seinen Söhnen opferte sich der König symbolisch selbst, um an der Gottheit teil zu haben.

 

Diesen Vater-Sohn-Mythos finden wir in vielen Religionen; das berühmteste Beispiel sind Abraham und Isaak. Dieser Gott, JHVH gehört zu den archaischen Göttern, die sich von Menschenopfern ernähren. Der Berg, auf dem Abraham Isaak opfern sollte, heißt nach der Bibel seither Jahwe Jire (=Jahwe sieht). JHVH sieht, dass sich Israel gänzlich ihm überantwortet. Die harte Lehre aus diesem Mythos ist, dass seinem Gott nur der gefällig ist, der seinem Gott sein wertvollstes Gut (in der nomadisch, patriarchalischen Stammeskultur der erstgeborene, einzige Sohn) zu opfern bereit ist.

 

Dieser Gott verlangt von allen Juden noch ganz andere Dinge als Opfer, zum Beispiel die Vorhaut. In der Tat geht es darum, der Gottheit einen Teil des Fortpflanzungs­organs also symbolisch die Sexualität zu opfern, ein nachhaltiges Opfer.

 

Das Schema der Kinderopferung durch den Vater bestürzt durch seine Dauerhaftig­keit. Einer der bekanntesten Mythen erzählt von der Artemis Priesterin Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon Artemis geopfert wurde. In geschichtlicher Zeit brachten die Karthager dem Gott Baal Hammon und der Göttin Tanit Kinder als Opfer dar. Bei den Karthagern hieß dieses Opfer „Molkh“ und in der Bibel war Moloch der heidnische Gott, dem Kinder geopfert wurden. Beide Begriffe dürften von dem kanaanäischen Mlk kommen, was König bedeutet. Diese Kinder wurden an der Opferstätte auf die Hände eines stierköpfigen Gottes gelegt und glitten von dort bei lebendigem Leib in einen großen Brennofen, während die Menge singend um die Statue tanzte.

 

In der christlichen Tradition stellt Gott die Tradition der Opferung auf den Kopf. Nachdem Gott von Abraham gefordert hat, seinen Sohn zu opfern, opfert Gott selbst nun seinen eigenen Sohn. Auf den ersten Blick schein es sich dabei um das uralte Schema zu handeln, dass der Vater seinen Sohn stellvertretend für sich selbst opfert. Es gibt jedoch keine höhere Instanz, der Gott seinen Sohn zum Opfer bringen könnte. Außerdem sind nach christlicher Theologie Gott und sein Sohn konsubstantiell, eine Opferung des Sohnes käme also einem Suizid Gottes gleich, der eine Zerstörung der Welt und einen Sieg des Nichts zur Folge hätte.

 

Die Theologie sucht heute noch die Antwort auf die Frage, wem Gott seinen Sohn geopfert hätte. Die christliche Theologie – unabhängig ob katholisch, evangelisch oder orthodox – verneint die Existenz eines allerhöchsten Wesens, hoch über Gott und Teufel. Nach den Kirchenvätern und auch für moderne Theologen hat der Schöpfergott seinen Sohn seinen Geschöpfen, den Menschen, geopfert. Ein Opfer wird aber einem höheren, mächtigeren Wesen dargebracht, und es ist undenkbar, dass der Schöpfer seine Geschöpfe als über sich stehend betrachtet. Außerdem ent­hält die Opfertheologie einen Selbstwiderspruch. Schuld kann nicht durch neuer­liches Blutvergießen gesühnt werden. Was Nietzsche „schauderhaftes Heidentum“ nennt, läuft auf eine Selbstaufhebung des Evangeliums hinaus, denn das Opfer eines Unschuldigen für die vermeintlichen Sünden der Menschen gleicht einer Bankrott­erklärung der christlichen Botschaft. Die Opferidee allgemein und besonders die Idee vom Opfertod Jesus setzen ein fragwürdiges Gottesverständnis voraus. Gott kann durch Opfer nicht bestochen und durch menschliche Gaben und Taten nicht zur Änderung seiner Absichten veranlasst werden (Plato). Daraus folgt, Sünde gegen­über Gott kann durch Opfer nicht getilgt werden, also auch nicht durch den Opfer­tod Jesus.

 

Wie tragisch und unmenschlich die Beziehung zwischen Menschen und Göttern ist, verdeutlicht der Mythus von Dionysos, dem Sohn von Zeus und Semele. Hera ließ ihn in ihrer Eifersucht durch die Titanen töten. Diese zerstückelten ihn und kochten ihn in einem Kessel. Dionysos entkam durch die Macht seines Vaters, wurde aber am Ende doch in Stücke gerissen, diesmal von seinen eigenen Priesterinnen, den Mänaden.

 

Mord und Folter im Namen oder im Auftrag einer Gottheit oder einer göttlichen Wahrheit sind nicht Relikte aus einer vergangenen, mythisch archaiischen Zeit. So beging die Inquisition (aufgehoben von Napoleon 1808 in Madrid) in den fast 800 Jahren ihres Bestehens zehntausende Morde im Namen einer absoluten göttlichen Wahrheit. Der Mudjahed, der seinen Sprengstoffgürtel auf einem belebten Markt­platz zündet, unterscheidet sich in nichts von einem Herakles, der freiwillig den Scheiterhaufen besteigt oder einem Dionysos, der sich selbst den Mänaden ausliefert. Seine Überzeugung ist, dass er sich für seinen Gott opfert, – genauso wie es tausende von christlichen Märtyrern taten und wie Juden Psalmen singend als Nachfolger Hiobs in den Holocaust gingen. Der Mudjahed ist der festen Überzeugung, mit seinem Tod augenblicklich in den Himmel ein zu gehen und mit seinem Gott eins zu werden.

 

Doch genug des Aufzählens immer neuer Grausamkeiten und Beispiele dafür, dass Gott permanent Opfer fordert und die möglichst in menschlichem Blut. Was bringt Menschen dazu, sich auf so eine Gottheit einzulassen? Die Massaker scheinen der menschlichen Vorstellungskraft zu entspringen. In einer Religion, die an die Un­sterblichkeit der Seele gar noch an eine Seelenwanderung glaubt, die der Seele eine neue Wohnung sichern würde, opfert man bloß die leibliche Hülle und der vor­zeitige Tod im Opfer stellt nur einen schnelleren Schritt in der Seelenwanderung dar.

 

Diese angebliche Todesverachtung ist ein praktisches Konstrukt, stellt doch die Todesangst seit den Anfängen der Menschheit die größte Angst dar. Der Anblick einer (verwesenden) menschlichen Leiche stellt die größtmögliche Verletzung des menschlichen Narzissmus dar. Die Lehre von der Seelenwanderung ist in erster Linie Tröstung ex anteriori. Das memento mori einer Verwesung veranschaulicht genau, was aus jedem Menschen werden wird.

 

Das Opfer wird Göttern dargebracht, die niemand objektiv erfahren hat und deren Vielzahl und Vielfalt beweist, dass sie Schöpfungen verschiedener Kulturen und als solche kollektive Einbildungen sind. Manchmal wird die Wahl der Opfergabe durch einen direkten Befehl der Gottheit bestimmt, manchmal durch die Vorstellung der Priester, Propheten, Wahrsager etc. von den Wünschen der Gottheit. Diese Wahl ist wieder eine kollektive Einbildung. In beiden Fällen wird diese Wahl vom Kollektiv der Menschen freudig willkommen geheißen. Nie protestiert das Kollektiv gegen den Kindermord zu Ehren des Molochs noch gegen die heiligen mörderischen Druiden. Ganz im Gegenteil, das Kollektiv ist einmütig stolz, den Willen der Gottheit zu er­füllen, was wieder beweist, dass auch die Grässlichkeiten der Opferung einem individuellen wie kollektiven Drang entsprechen.

 

In den meisten Fällen sind die Opfer geliebte oder besonders liebenswerte Menschen, (die eigenen) Kinder, das eigene Fleisch und Blut, unschuldige Mitglieder des eigenen Kollektivs, die allerschönsten Jünglinge und Jungfrauen. Der einzelne Mensch kann auch einen Teil von sich selbst, dem er einen besonderen Wert bei­misst, opfern; einen Hoden, seine sexuelle Aktivität, sich selbst. Jedes Opfer ist mehr oder weniger Selbstopfer abhängig von der Bedeutung der Gabe. C. G. Jung schreibt: „Das Opfer ist immer das Aufgeben eines wertvollen Stückes, dadurch kommt der Opferer dem Gefressenwerden zuvor, das heißt es entsteht nicht eine Verwandlung in den Gegensatz, sondern eine Vereinigung und Ausgleichung, woraus sofort eine neue Libido-, respektive Lebensform entsteht, Sonne und Wind ergeben sich.“

 

In allen Fällen zielt das Opfer auf teilweise oder vollständige Zerstörung ab. Aller­dings gibt es so etwas wie ein Geschenk an die Gottheit nicht (Lessing: er wird nicht fett durch euer Fasten). In Wirklichkeit geht es um Zerstörung. Jedes Opfer ist mehr oder weniger Selbstopfer. Nach C. G. Jung ist die Macht, die mich zwingt ein Opfer zu bringen, mein Selbst. Das Selbst ist Opfernder und ich bin die geopferte Gabe, das Menschenopfer.

 

Exemplarisches Beispiel dafür ist der Mythos vom Opfer des Isaak. Abraham soll seinen einzigen Sohn Isaak wegen des übermächtigen göttlichen Gebots opfern. Im letzten Moment greift JHVH persönlich ein und verhindert den Mord. Allerdings gibt es einen Midrasch, dass Abraham seinen Sohn tatsächlich geopfert hätte. JHVH hätte danach Isaak zu neuem Leben erweckt. Im Grunde kann sich der Vater nur selbst als Opfer erleben und wird wahrscheinlich den Stich des Schlachtmessers genauso spüren wie sein eigener Sohn. In diesem Fall wäre er Opfernder und Ge­opferter in einer Person.

 

Für C. G. Jung findet ein Opfer nur statt, wenn das Selbst es fühlbar und unzweifel­haft an uns vollzieht. Aus dem Selbstopfer gewinnen wir das Selbst, uns selbst. Das Selbst wird als die Vereinigung des Bewusstseins mit dem Unbewussten verstanden. Für das Bewusstsein ist eine Gabe mit aufgehobenem Anspruch auf Besitz – eben das Opfer – eine sinnlose Handlung. Mit der Opferung geht das Selbst aus dem dissoluten Zustand des Unbewusstseins in den des Bewusstseins und aus dem potentiellen in den aktuellen Zustand über.

 

Symbolisch dargestellt wird dieser Vorgang im Wandlungsmysterium der katholischen Messe, die ausdrücklich als unblutige Wiederholung des Kreuzesopfers bezeichnet wird. Gott ist Opfernder und Opfergabe in einer Person. Gleichzeitig wird er im Opferakt zum leidenden und sterbenden Menschen, der selbst durch das eucharistische Mahl an der Gottheit teil hat.

 

Christus erscheint als Logos von Ewigkeit und gleichzeitig als Menschensohn. Als Logos ist er das weltschöpferische Prinzip. Dem entspricht das Verhältnis des Selbst zum Bewusstsein, ohne welches die Welt nicht als existierend wahrgenommen werden würde. Als Menschensohn entspricht er dem Individuum in all den einzelnen Erscheinungsformen des Selbst.

 

In der Geschichte vom Kreuzestod Jesus finden wir Elemente des Königopfers, Mantelbekleidung, Dornenkrone, Geißelung; verdeutlicht durch die Geschichte von Bar-Abbas (Sohn des Vaters). Der Tod am Kreuz ist ein mutwilliges zu Tode quälen des Opfers, eine entehrende Strafe für Sklaven. Diese Strafe wird an der Gottheit selber ausgeführt. Doch wofür wird die Gottheit bestraft? Aus der jüdischen Bibel wissen wir, dass JHVH zwar ein Hüter des Gesetzes ist, selber aber nicht ge­recht ist und an Zornanfällen leidet, die er selbst bereuen muss. Nicht die Menschheit habe die Schuld sondern Gott selber, es ist daher nur logisch, dass er sie exkulpiere. Dieser Gedanke ist so weit stimmig, weil er in seinem erstgeborenem Sohn – Satan – Adam und Eva provozierte. Diese Wiedergutmachung erinnert an die Geschichte von Hiob, in der sein Erstgeborener, in diesem Fall als Zweifelsgedanke, ebenfalls seine Hand im Spiel hat; in der Folge ersetzt JHVH Hiob alle seine Verluste.

 

JHVH steht hier in der Tradition der Jahrkönige. Als Weltschöpfer hat er eine unvoll­kommene Welt erschaffen, daher muss er als Jahrkönig rituell getötet werden. War es in früheren Zeiten möglich, dass die Menschen ihre Götter entthronten, indem sie ihre Statuen prügelten oder in Fesseln legten, so kann sich nun ein Gott nur noch selbst entthronen oder töten lassen.

 

Auch in der Freimaurerei finden wir diesen Auferstehungsmythos vom Göttlichen ins Menschliche transformiert in der Legende von Hiram. Hiram ist kein Gott, Hiram ist Mensch. Hiram opfert sein Leben, opfert sich selbst, um das geheime Meisterwort zu bewahren. Dieses geheime Wort oder seine richtige Aussprache müssen aber sehr viel mehr gewesen sein als ein Aus­weis oder Passwort, denn sonst hätte er sein Leben nicht dafür gegeben. Hirams Opfernde sind seine eigenen Fehler, Dummheit, Machtgier und In­toleranz als die drei Mordgesellen. Auch er ist also Opfer und Opfernder zugleich.

 

Bei näherer Auseinandersetzung mit dem Stoff der Hiramlegende zeigt sich jedoch, dass hier noch einige Aspekte mehr versteckt sind. Folgen wir Nérval, so zeigt sich, dass König Salomo zumindest über die Attentatspläne gegen Hiram informiert ist und nichts dagegen unternimmt. Als Motiv wird dem großen König Eifersucht auf die Macht Hirams unterstellt, der er der König nichts entgegen zu setzen hat, Mord als purer Machtkampf zwischen zwei Männern? Oder muss Salomo doch etwas opfern, ein Bauopfer darbringen, wie es von Alters her Brauch ist? Bauopfer sind in der Bibel noch aus späterer Zeit bezeugt; so im ersten Buch der Könige, wo über den Wiederaufbau Jerichos berichtet wird: In seinen Tagen baute Hiel, der Betheliter, die Stadt Jericho wieder auf. Um den Preis von seinem Erstgeborenen, Abiram, legte er ihren Grund, und um den Preis von Segub, seinem Jüngsten, setzte er ihre Tore ein… (1.Kön 16,34). Salomo gebe also etwas von sich her, das ihm besonders wert ist, er ge­fährdet durch die Opferung Hirams seinen Tempelbau. Die Legende schließt damit, dass Hiram von Menschen aus dem Grab gehoben wird, um im Tempel bestattet zu werden.

 

Nirgends in der Legende vom Baumeister Hiram ist davon die Rede, dass er von Salomo oder von wem auch sonst immer zu neuem Leben erweckt wird. Die Mission Hirams ist mit Tod, Auffindung des Leichnams und Grablegung erfüllt. In der Johannismaurerei wird nun dieser Lauf der Erzählung durch den Akt der Erhebung, der Auferweckung, der Totenbeschwörung durchbrochen. Offen bleibt, ob Hiram als Leichnam oder als Auferstehender aus dem Grab gehoben wird. In der offiziellen Interpretation lebt Hiram in dem neuen Meister fort, und die Kontinuität der maurerischen Kette ist wieder hergestellt.

 

Sehr oft wird in diesem Zusammenhang in der maurerischen Literatur auf die Berichte von Totenerweckungen in der Bibel verwiesen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um drei Berichte. Die Auferweckung des Sohns der Witwe von Sarepta durch Elias, die Auferweckung der Tochter des Jairus durch Jesus und die Aufer­weckung des Lazarus durch Jesus. Der Sohn der Witwe und die Tochter des Jairus werden durch Einblasen des (Lebens)atems zu neuem Leben erweckt. Lazarus wird einfach bei seinem Namen gerufen und soll aus seinem Grab heraus kommen. Keiner dieser drei Berichte ähnelt unserer Erhebung. Jedes Mal handelt hier einer mit der Macht oder im Namen einer höheren Autorität.

 

Eine andere Geschichte, die Geschichte vom Golem, hat verblüffende Ähnlichkeiten mit unserer Hiramlegende. Rabbi Löw in Prag formt aus Ton eine Figur und erweckt diese dadurch scheinbar zum Leben, dass er ihr ein Stück Pergament mit dem Tetragrammaton unter die Zunge steckt. Die Ähnlichkeit zu unserer Erhebung liegt auf der Hand. Folgen wir dem Text der Hiram­legende, so hat die Verwesung des Leichnams ein Stadium erreicht, in dem die Knochen frei liegen. Die Knochen sind aus Mineralstoffen, gehören damit genauso zum Element Erde, wie Ton. Auch Adam wird aus Erde erschaffen, ihm haucht Gott jedoch seinen Atem ein.

 

Die Hebung wird durch die Heiligen Worte, die Zauberworte, des 1. und 2. Grad versucht und gelingt schließlich durch das Einflüstern des neuen Worts. Einen Toten zu erwecken oder vielleicht doch eher zu beschwören überfordert – auch wenn es nur symbolisch zu verstehen ist – die Kraft eines Menschen, sogar die eines MvSt. Das kann daher nur durch die Mithilfe der Brüder, verdeutlicht durch die 5 Punkte der Meisterschaft, geschehen. Es ist die Ge­meinschaft der maurerischen Bruderliebe und nicht das Wirken einer göttlichen Macht, die das Wunder der Auferweckung und Aufhebung zu neuem Leben be­wirkt.

 

Auch wenn in der Freimaurerei die Symbolik betont wird, so wird Auferweckung oft mit göttlicher Macht assoziiert, Gott selbst oder seinem Bevollmächtigten. Denken wir diesen Gedanken konsequent weiter, so wird die Freimaurerei so etwas wie eine jüdisch-christliche Sekte. Es wäre daher die Frage zu stellen, im Auftrag welchen Gottes wir solche Totenerweckungen durchführen und wofür Hiram geopfert wird.

 

Das ist eigentlich ein Gedanke, bei dem ich mich nicht wohl fühle; viel eher kann ich mich mit der Vorstellung von Nekromantie an­freunden. Damit stehen wir in der Tradition eines Teiresias, der Laios beschwört, um etwas über dessen Mörder, Ödipus, zu erfahren und der selbst von Odysseus be­schworen wird. Auch Faust und John Dee wird Nekromantie nachgesagt. Am besten kann ich mich jedoch in der Idee wiederfinden, dass in der Hiramlegende symbolisch die ersten Schritte des alchemistischen großen Werks dargestellt sind; also die Johannismaurerei – wie Albert Pike feststellt – das Tor , den Eingang in den Tempel der Freimaurerei dar­stellt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur

  • Bankl Hans; Hiram, Biblisches – Sagenhaftes – Historisches, Edition zum Rauhen Stein, Wien 2000
  • Gerigk, P. Manfred, Befreiungstheologie, das Opfer Anmerkungen zu einem religiösen Phänomen; http://www.dominikaner-mission.de, 16. März 2008, 23.55 Uhr
  • Jung Carl Gustav; Psychologie und Religion, Deutscher Taschenbuchverlag 35177, München 2001
  • Messadié Gerald; die Geschichte Gottes, über den Ursprung der Religionen, Ullstein Verlag Berlin 1997
  • Rothmayer Michael; das Opfer, Baustück im 3. Grad, aufgelegt in Loge Aurora zu den 3 Feuern, Orient Klosterneuburg, 29. März 6002 a... l..., Karfreitag

Die Sache mit dem GBAW

… die schöpferische, uns Menschen unerforschliche Wesenheit …, die wir Freimaurer im Symbol des Großen Baumeisters aller Welten verehren…[1]

Der GBAW ist scheinbar ein einfach zu verstehendes Symbol. Meistens denken wir, wenn wir den Begriff GBAW hören, an einen konkreten Gott, vorzugsweise an einen Gott der Buchreligionen, der – ebenso selbstverständlich – theistische Eigenschaften hat. Vielen von uns wird spontan die Buchmalerei aus der Österreichischen Nationalbibliothek oder das Werk von Blake einfallen, welche den GBAW mit dem Zirkel in der Hand die Welt konstruierend zeigen.

Die Sache mit dem GBAW wird dadurch kompliziert, dass die wesentliche Voraussetzung für die Regularität einer Großloge gemäß den Regeln der UGLE die Anerkennung eines „Supreme Being“, eines Höchsten Wesens, eines übergeordneten Seins, eben des GBAW, ist. Ausdrücklich wird von der UGLE in einer Erklärung vom Juni 1983 festgestellt, dass sich die Freimaurerei in keiner Weise an die Gebräuche irgendeiner Religion anlehnt. Das Höchste Wesen ist ein „regulatives Prinzip“, das vom Br... FM mit seinen persönlichen weltanschaulichen-religiösen Vorstellungen zu verbinden ist.

Damit sind jedoch aus meiner Sicht sehr wesentliche Aussagen getroffen. Der GBAW stellt ein – ohne Zweifel – zentrales Symbol der FMei dar. Allerdings ist er eben ein Symbol, und ein Symbol ist nicht die Sache selbst, so wie die berühmte Pfeife in dem Gemälde von Magritte eben keine Pfeife ist. Beim GBAW handelt es sich eben nicht um die freimaurerische Bezeichnung für Gott, Allah, JAHWE. Die Annahme, dass dieses Höchste Wesen theistische Eigenschaften hat ist willkürlich. Wahrscheinlich haben die Brr... im 18. Jahrhundert in England eher ein deistisches Weltbild vertreten. Das Symbol des GBAW ist in der Interpretation offen und steht nicht ausschließlich für einen wie auch immer gearteten Gott.

Das Bekenntnis zum GBAW und die Bibel, das Buch geheiligter Überlieferung, begründen auch keine wie immer gearteten religiösen Minimalanforderungenan an den Freimaurer. Im Dialog an der Pforte des Tempels anlässlich der Aufnahme eines Suchenden antwortet der VM auf die Frage nach der Religion desselben: danach habe ich nicht gefragt.[2]  GBAW und das Buch geheiligter Überlieferung stellen die umfassenden Sinnsymbole der FMei dar und sind als solche von jedem Br... zu respektieren. Der Freimaurer hat sich moralisch, nicht religiös zu verpflichten, ein guter und redlicher Mann soll er sein, ein Mann von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht und Bekenntnis und religiöse Überzeugung, sagen die Alten Pflichten.

FMei ist daher aus meiner Sicht offen für Menschen aller Weltanschauungen und Religionen, sie ist offen für Menschen mit keiner religiösen Bindung im herkömmlichen Sinn, und sie muss auch offen für Agnostiker und Atheisten sein. Jedoch, ein die Werte des Freimaurerbundes verneinender Nihilismus, nicht ein mit humanistischem Denken und Handeln durchaus vereinbarer Atheismus oder Agnostizismus, ist das für einen ethischen Bund unabdingbare Ausschlusskriterium.[3]

Der Auftrag ergeht an jeden einzelnen Br... das zentrale Symbol der GBAW persönlich mit Sinn zu erfüllen. Aus meiner Sicht steht das Symbol des GBAW für ein sinngebendes Prinzip, für eine über das Ich hinausgehende Transzendenz, die nicht religiös verstanden werden muss, sondern auch immanent als Beziehung zum Du und Wir begriffen werden kann, als ein Über-Sich-Hinausgehen und Über-Sich-Hinausblicken innerhalb dieser Welt…[4].

Freimaurerei ist eine ethisch orientierte Vereinigung freier Menschen. Freimaurer haben keinen gemeinsamen Gottesbegriff. Das Symbol des GBAW steht ganz allgemein für die Anerkennung eines sinngebenden Prinzips, das auch die Menschenrechte oder eine Weltformel sein können. Folglich ist Freimaurerei offen für Menschen jedweden religiösen Glaubens und für Menschen, die sich zu keinem religiösen Glauben bekennen. In der Freimaurerei geht es um menschliches Miteinander, ethische Lebensorientierung und emotionale Spiritualität durch Symbole und rituelle Handlungen.

Durch ihre Symbole und Rituale bewirkt die FMei eine dreifache Einordnung des Freimaurers. Im Habitus des Bruders soll eine moralische Ordnung begründet werden: „Schaue in dich“, … Es soll eine soziale Ordnung begründet werden: „Schaue um dich“, … Und es soll eine kosmologische Ordnung begründet werden: „Schaue über Dich“, die Arbeit des Freimaurers dient einem höheren Sinn, sie erfolgt mit Bezug zur Transzendenz, wobei Transzendenz auch als innerweltliches Wertgefüge verstanden werden kann.[5]

Es ist jedem Br... FM selbst überlassen, ob er an Gott glaubt oder nicht, wie er das Symbol des GBAW für sich persönlich mit Sinn erfüllt. Kein Freimaurer darf einem anderen sein jeweiliges Glaubens- oder Nichtglaubens-Konzept überstülpen. Das Symbol des GBAW ist in der Interpretation offen und steht nicht ausschließlich für einen wie auch immer gearteten Gott.

[1] Ritual der Rezeption, GLvÖ

[2] Ebenda

[3] Höhmann H.-H.; Freimaurerei. Analysen, Überlegungen, Perspektiven, Temmen-Verlag, Bremen 2011

[4] http://www.freimaurerinnen-muenster.de/Wissenswertes, Zugriff 29.12.2019, 18.10 hrs

[5] Höhmann H.-H.; das Ritual in der Humanistischen Freimaurerei; Funktion, Struktur, Praxis; Salierverlag, Leipzig 2016

Sunnawend und Blunzenhansl

Jedes Jahr feiern wir das Winter- und das Sommerjohannisfest. Wir nennen uns St.-Johannis-Logen und die Bibel wird bei den Arbeiten im ersten Kapitel des Johannes­evangeliums aufgeschlagen. Für uns ist es also heute selbstverständlich, von St.-Johannis als Patron der Bauleute im allgemeinen und der Freimaurer – insbesondere der regulären – zu sprechen. Das war aber keineswegs immer so. Ein summarischer Überblick zeigt, dass es für die operativen Bauhütten keine einheitliche Tradition in bezug auf den Schutzpatron gab. So war die Straßburger Dombauhütte bis 1515 den Vier Gekrönten geweiht, erst dann führte sie Johannes den Evangelisten im Wappen, für die Rotter­damer Bauhütte war die Patronin 1491 St. Barbara. In England finden wir den Täufer und den Evangelisten, aber auch St. Thomas, St. Alban, oder die Vier Gekrönten. Bei den operativen Logen scheinen die Quatuor Coronati die Johannistradition überwogen zu haben. Allgemeine Verbreitung in der Freimaurerei hat das Johannisfest erst nach den Großlogengründungen gefunden. 1723 schreibt James Anderson in Nr. XII der General Regulations: „…die Brüder aller Logen in und um Westminster sollen bei einer Jahres­versammlung und einem Fest an einem geeigneten Ort zusammentreffen, am Tag Johannes des Täufers oder am Tag Johannes des Evangelisten, wie die Großloge es durch eine neue Verordnung für richtig hält…“.

 

Unter den heutigen FM-Logen ist es so, dass von 838 untersuchten Logennamen weltweit sich 158 auf St. Johannis, 138 auf St. Andreas und 541 auf andere Heilige bezogen (cf: Zur wohltätigen Marianna). Auch in unserer österreichischen Kette wird der Brauch der Johannisfeste begangen, am Winterjohannisfest mit dem Totengedenken und am Sommerjohannisfest mit der An­gelobung der neuen Meister vom Stuhl.

 

Johannes der Täufer war der Sohn eines jüdischen Priesters aus dem Stamm Levi, der sich längere Zeit als Eremit in die Wüste zurückzog. Nach einer Vision kehrte er als messianischer Bußprediger zurück und wurde zum Gründer einer Bewegung, die sich vom damaligen Judentum durch die Praxis der Taufe und die unmittelbare Heilserwartung abhob.

 

In den Evangelien wird seine Rolle so dargestellt, als ob er nur auf Jesus, den Christus, hingewiesen und sich dann bescheiden zurückgezogen hätte. Eher ist jedoch zu ver­muten, dass sowohl Johannes als auch Jesus jüdische Reformbewegungen begründet hätten, was durch das Weiterbestehen von Johannesjüngern im ersten Jahrhundert belegt wird.

 

Nach seiner Enthauptung um das Jahr 30 unter Herodes Antipas wurde er von der spät­antiken Kirche zum christlichen Märtyrer und Heiligen erklärt. Die junge Kirche be­nutzte ihn zusammen mit dem heiligen Cyrus, um in Menuthis bei Alexandria direkt neben dem Tempel der Isis einen konkurrierenden Kult zu etablieren. Der kopflose Johannes sollte den Platz des zerstückelten Osiris übernehmen.

 

Diese Verbindung mit heidnischen Bräuchen wird auch in der Wahl seines Festtages, 24. Juni, deutlich, der heidnischen Sommersonnenwende, daher auch Sunnawendhansl. So konnten heidnische Bräuche, wie die Sonnwendfeuer oder das Verstreuen von Blumen auf Seen unter kirchlicher Tradition weiterleben.

 

Der Täufer steht für das Urlicht und für das Urfeuer, das übernatürliche Licht, das den Geist erhellen wird. Symbol dafür ist die Feuertaufe. Der Täufer sagt über sich selbst: nach mir kommt einer, der euch mit Geist und mit Feuer taufen wird, während ich nur mit Wasser taufe. Genauso erscheint der Heilige Geist zu Pfingsten unter dem Zeichen von Feuerzungen. Das Feuer reinigt und glüht aus, es hilft, die Materie in einen anderen Zustand, den luftigen, geistigen, flüchtigen, überzuführen und damit eine höhere Stufe zu erreichen. Dieses Feuer, das Johannes der Täufer ankündigt, finden wir schon in seinem Namen, denn Johannes, hebräisch Jehohannan, heißt übersetzt: der den Jeho begünstigte, und Jeho ist der Name für den Sonnengott.

 

Im Täufer stellt sich nicht der Fixstern Sonne dar, sondern in ihm verkörpert sich symbolisch das allumfassende und einzige Prinzip, das zur Quelle der körperlichen und geistigen Welt wird; er ist die erste Ausstrahlung der alleinigen Ursache.

 

Im Neuen Testament finden wir drei Schriften, die einem Johannes zugeschrieben werden, das Evangelium, die Briefe und die Apokalypse. Trotz vielfacher Textanalysen bleibt die Autorenschaft des Apostels Johannes für alle drei Texte unentschieden und umstritten.

 

Der Apostel Johannes war nicht nur der jüngste Jünger Jesu, zusammen mit seinem Bruder Jakobus, die Donnersöhne wie sie im Evangelium genannt werden, war er zu­nächst auch Jünger des Täufers. Nach der Kreuzigung Jesu, bei der als einziger an­wesend war, war er neben Petrus bis etwa 52 die bedeutendste Autorität für die juden­christliche Gemeinde in Palästina. Danach soll er mit Maria in Ephesus gelebt haben und schließlich auf der Insel Patmos in der Verbannung einen natürlichen Tod gestorben sein. Als Heiliger bekam er seinen Festtag am 27. Dezember, zur Zeit der Wintersonnen­wende, des 12-tägigen Julfests der Germanen. In der Verbindung mit Weihnachten entsteht sein volkstümlicher Name Blunzenhansl.

 

Am 27. Dezember weihte man früher in den Kirchen einen besonderen Rotwein, den Johanniswein, der als Mittel gegen Vergiftungen galt, weil einer Legende zufolge der Evangelist einmal vergifteten Wein ohne Schaden trank. Hier scheint der jugendliche Apostel Johannes an die Stelle Freyrs, des freundlichen Gottes des Friedens und der Fruchtbarkeit getreten zu sein, dessen Feste sowohl auf Winter- als auch Sommersonnenwende fielen.

 

Das Johannesevangelium unterscheidet sich von den drei anderen Evangelien deutlich. Es ist das jüngste Evangelium und in griechisch, nicht in aramäisch, verfasst. Sein Inhalt erzählt nicht nur die Geschichte vom Leben Jesu wie die anderen, sondern gibt eine esoterische Interpretation von Jesus als dem Christus. Auch scheint es einer vor­christlich hermetisch-gnostischen Tradition nahe und zeigt initiatorische Elemente.

 

Die Briefe – in einem anderen Stil in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts in Kleinasien verfasst – dürften von einem Presbyter Johannes, einer Autoritätsperson, die noch die Augenzeugen Jesu kannte, geschrieben worden sein.

 

Die Offenbarung oder Apokalypse steht in der Tradition und der Bilderwelt der jüdischen Mystik und damit in der Tradition der Endzeiterwartungen jener Zeit. Ihr Status als kanonisches Buch war in der Kirche lange umstritten. Erst im 8. Jahr­hundert übernahm die römische Kirche die Offenbarung in ihre Leseordnung, während sie für die Ostkirchen bis heute als apokryph gilt.

 

Neben diesen drei Schriftgruppen, die dem Evangelisten zugeschrieben werden gibt es noch eine Reihe weiterer Schriften, wie einen weiteren Evangelientext, eine Lebens­beschreibung Marias und die sogenannten Johannesakten. Sie alle gehören in die Ge­dankenwelt juden- und heidenchristlicher Sekten wie der Mandäer, der Doketisten oder der Gnostiker. Manche Autoren behaupten auch das geheime Weiterbestehen einer Johanneischen Kirche, was durch die besondere Verehrung, die der Apostel Johannes bei den Katharern oder bei den Templern genoss, belegt werden soll.

 

Das Symbol des Evangelisten Johannes ist der Adler, eines der ältesten Symbole, das bei allen antiken Völkern der Sonne geweiht war, bei den Griechen der Vogel des Zeus, bei den Kelten der Vogel der höchsten Gottheit. Bei Griechen wie Römern brachte der Adler das Licht und verkündete Überfluss und Wohlstand. In der Kabbala stellt der Adler den Erzengel Uriel, den Engel des reinigenden Feuers dar.

 

Nach der Tradition ist der Adler mit der Initiation, Sterben und wieder Geborenwerden, verbunden; im Flug setzt er sein Gefieder solange der Sonne aus, bis es komplett verbrannt ist, danach stürzt er sich in klares Wasser, um erneuert und verjüngt wieder geboren zu werden. Schon der Täufer hat diese doppelte Taufe angekündigt.

 

Johannes schreibt über diese Wiedergeburt aus Wasser und Geist im Gespräch mit Nikodemus und berichtet von der tatsächlichen Wiedergeburt des Lazarus. In seinem Prolog lehrt Johannes der Evangelist, dass Gott Geist ist und dass der Logos der Mittler zwischen Gott und dem Menschen ist. Diese Lehre vom Logos ist analog zum Zoroastrismus, in dem aus dem höchsten Wesen Zrva Akaran das Licht hervorgeht, das als Emanation Ormuzd zeugt, der zum Schöpfer einer reinen Welt wird.

 

Das Evangelium der Johannes ist nicht nur das der Erkenntnis, der Einweihung und der Wiedergeburt, es ist vor allem auch das Evangelium der Liebe. Liebt einander ist seine immer wiederkehrende Botschaft; für Johannes ist der, der liebt, im Licht und der, der hasst, in der Dunkelheit.

 

Der Evangelist wird oft mit einem Becher, aus dem eine Schlange kriecht, dargestellt. Diese Schlange ist ein Symbol der Erkenntnis, Auferstehung und der Unsterblichkeit, ein Wächter, wie der Drache, der den Schatz bewacht. Mit einem Becher schenkte Ganymed den Ambrosia aus, der den griechischen Göttern Unsterblichkeit verlieh, der Becher erinnert an den Heiligen Gral, mit dem Jesus der Überlieferung nach Abendmahl feierte und in dem dann Josef von Arimathäa das Blut Jesu auffing. So wird der Becher zu einem Symbol für Erkenntnis und Unsterblichkeit.

 

Die Feste des Täufers und des Evangelisten, 24. Juni und 27. Dezember, markieren zugleich die beiden Positionen im Sonnenlauf des Jahres, an denen zum einen die Finsternis scheinbar über das Licht triumphiert und zum anderen das Licht im Moment seines größten Triumphes der Dunkelheit Raum geben muss. Unsere Logen und unser Logenritual sind stark von diesem Licht – Finsternis Dualismus geprägt und sogar unser Gehen im Tempel, diesem heiligen Raum, geschieht im Sonnenlauf. Die beiden Wendepunkte werden durch den MvSt im Osten und durch den TH im Westen markiert.

 

Wie Johannes der Täufer weist der MvSt auf das Licht hin. Er hat das Urlicht bei der Lichteinbringung in den Osten gebracht und entzündet es bei jeder Arbeit aufs Neue. Durch sein Tun gemeinsam mit den beiden Aufsehern erbaut er eine Welt aus Licht und Ordnung im Dunkel des Chaos. Er wird zum Rufer in der Wüste, wie der Täufer genannt wird.

 

Wie Johannes der Evangelist ist der TH der wahre Eingeweihte. Nur einer, der um alle Geheimnisse weiß, kann eine Pforte bewachen, nur einer, der die vollständige Initiation erhalten hat, kann sich symbolisch den Mächten der Finsternis entgegen stellen und permanent die Schwelle zwischen Fanum und Profanum überschreiten.

 

Vor allem in der englischen Maurerei gibt es in Zusammenhang mit den beiden St.-Johannis eine symbolische Darstellung. Ein Punkt im Zentrum, umgeben von einem Kreis mit zwei parallelen Geraden links und rechts, bei zwölf Uhr ein aufgeschlagenes Buch.

 

Der Punkt ist der einzelne Bruder. Der Kreis symbolisiert das Leben des Bruders, das ihn permanent an Licht und Finsternis heranführt, wo er dem Täufer im vollen Licht und dem Evangelisten in dunkelster Nacht begegnet. Beide stehen warnend und aufmunternd zugleich da. Auch im größten Licht ist die Finsternis nicht fern, aber auf die tiefste Nacht folgt der strahlende Morgen. Über allem aber steht das Buch des Gesetzes, des Lichts über uns, der Stimme in der Brust, des Lichts, aus dem alles kommt und auf das letztlich beide St.-Johannis hinweisen.

 

Abstract:

 

Die drei blauen Grade werden üblicher Weise als Johannis-Grade bezeichnet; dieser Name setzte sich aber erst mit der Großlogengründung von 1717 durch. 1723 bestimmte Anderson in den „General Regulations“, dass das alle Logen am Sommer- oder Winterjohannisfest zusammenkommen sollten.

 

Johannes der Täufer steht für das Urlicht, das übernatürliche Licht, das reinigt und läutert.

 

Der Tradition nach ist Johannes der Evangelist der Autor des gleichnamigen Evangeliums, der drei Briefe und das Apokalypse; darüber werden im einige weitere apokryphe Schriften zugeschrieben, auch soll eine johanneische Kirche bis ins hohe Mittelalter weiter bestanden haben. Sein Symbol, der Adler, weist auf die Taufe durch Feuer und Wasser, die der Täufer verkündet hat hin.

 

Die Festtage von Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten, 24. Juni und 27. Dezember, markieren die Sommer- und die Wintersonnenwende. In der Loge markieren diese beiden Wendepunkte der TH und der MvSt. Der TH ist wie der Evangelist der Eingeweihte, der die Pforte bewacht, und der MvSt weist auf das Licht hin, ohne selbst das Licht zu sein.

 

Die beiden Johannes sollen uns Brr... FM immer daran erinnern, dass auch im größten Licht die Dunkelheit nicht fern ist, aber genauso auf die tiefste Nacht der strahlende Morgen folgt.

Literatur

  • Brunold Andreas, Wer war Johannes der Täufer? Alpina (Schweizer Freimaurer-Rundschau), Nr. 6, 1999
  • Diestelmann R., Johannisfest, in Stern von Bethlehem, Wesen und Ziel der Freimaurerei
  • Elam Phillip G, St. John the Baptist, Patron Saint, Grand Orator Grand Lodge of Ancient, Free and Accepted Masons of the State of Missouri
  • Elam Phillip G, St. John the Evangelist, Patron Saint, Grand Orator Grand Lodge of Ancient, Free and Accepted Masons of the State of Missouri
  • Lennhoff Eugen, Posner Oskar, Binder Dieter A., internationales Freimaurer Lexikon, Herbig München 2000
  • Meier Peter, Johannes der Täufer – Schutzpatron der Freimaurer, Alpina (Schweizer Freimaurer-Rundschau), Nr. 6, 1999
  • Naudon Paul, les Loges de Saint-Jean et la Philosophie Ésotérique de la Connaissance, Dervy-Livres, Paris 1974
  • Richert Thomas, Freimaurerloge oder Johannisloge, in QC-Jahrbuch 39/2002
  • Stegemann Hartmut, die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Herder Spektrum 4128