Hat die Freimaurerei eine Zukunft?

Die Freimaurerei, so behaupte ich, steckt in einer Krise. Es ist Zeit zu fragen, was von der „königlichen Kunst“, die einst angetreten war, für die geistige Emanzipation des Menschen gegen alle auferlegten Schranken einer traditionalen und dogmatischen Weltinterpretation zu kämpfen, geblieben ist. Dem Menschen eine menschlichere Welt zu errichten, war das Ziel. Für die Geistesströmungen, die wir heute als Aufklärung und (Neo-) Humanismus bezeichnen, war die historische Freimaurerei innovativer Funke und Katalysator zugleich.

Die Logen, die einst den freiesten und kreativsten Köpfen ihrer Zeit, auf die wir uns auch heute noch immer wieder gern berufen, geistigen Unterschlupf und brüderlichen Halt gewährten, existieren bis heute, doch scheint sich deren geistige Struktur und soziale Funktion grundlegend geändert zu haben. Die tradierten Formen unseres Zusammenlebens, etwa die Abgeschlossenheit gegenüber der profanen Welt, werden mehr und mehr zum Selbstzweck, und die Form unserer rituellen Arbeit zeigt Tendenzen der Erstarrung.

Der Grund für mein Nachdenken darüber, ob die Freimaurerei eine Zukunft habe, liegt darin, dass sich die Rahmenbedingungen der Welt, in welcher sich die Freimaurerei bewähren muss, in den letzten Jahren fundamental geändert haben. Stichworte sind

  • die Auflösung fester internationaler Strukturen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems;
  • die aktuell hohe Gefahr für den Ausbruch eines Dritten Weltkriegs;
  • die Globalisierung mit ihren vielen ungelösten Problemen;
  • die konfliktträchtigen Mischungen von multikultureller Gesellschaft, religiösen Fundamentalismen und internationalem Terrorismus;
  • das „Flüchtlingsproblem“ mit all seinen nationalen und internationalen Auswirkungen;
  • die demographischen Veränderungen (ungünstige Altersstruktur, Desintegration der Generationen);
  • die Veränderungen der Arbeitswelt und das Problem der „Sozialen Gerechtigkeit“
  • die Gefährdung der Stabilität von Umweltbedingungen (drohende Klimakatastrophe)
  • das nicht definierte Verhältnis zu den maurerischen Schwestern und den sogenannten irrregulären Obödienzen

Nur allzu gerne verweisen wir auf die Leistungen unserer vorausgegangenen Brüder, um uns hinter diesen zu verstecken und uns nicht den brennenden Fragen der Gegenwart stellen zu müssen. Wir verweisen gerne darauf, dass Tagespolitik in unseren Logen entsprechend den Alten Pflichten keinen Platz hat. Das Ritual sei unveränderbar und stehe über allem. Gerade aber das Ritual verweist auf den konkreten Bezug zu unserer Realität (…wie hier durch das Wort, im Leben durch die Tat…). Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit sind und waren seit ihrer Proklamation keine empirischen Fakten, sondern eine Geschichte, die die Gesellschaft über sich selbst erzählt. Unser vollendeter Br... Portisch hat in seiner Festzeichnung anlässlich 300 Jahre Freimaurerei in der Hofburg diesen uralten Appell der Freimaurerei für unsere heutige Zeit mit Demokratie – Menschenrechte – Solidarität übersetzt. Auch heute ist die politische Wirkung der Freimaurerei, der Brüder wichtig. Der F.z.a.S. hat schon 1930 in seiner „programmatische Erklärung des Reformfreimaurerbundes“ im Jahre diese Überlegung angestellt und den Brüdern ans Herz gelegt: „Zulassung der Erörterung auch politischer und religiöser Fragen im Tempel: denn ihre Ausschaltung zeugt von mangelndem Vertrauen zur freimaurerischen Idee, die ja das gesamte persönliche und gemeinschaftliche Leben durchdringen und gestalten soll; es entsteht zugleich die Gefahr einer leeren Schönrednerei ohne fruchtbringende Wirkung für den Menschheitsbau.“

Freimaurerei ist ein eigenartiges Lehrgebäude der Sittlichkeit, in Gleichnisse gehüllt und durch Sinnbilder erklärt. Sie ist eine Lebensschule, die das einzelne Mitglied durch Arbeit an seinem Innersten ermächtigen will, seinen Beitrag zur Schaffung einer humanen Gesellschaft zu leisten. Die Freimaurerei orientiert sich an den Idealen der Humanität, der Toleranz und des Kosmopolitismus. Die angestrebten Ziele will der Freimaurer dadurch erreichen, dass er seine Vorhaben mit Weisheit und Umsicht plant, dass er sie konsequent und mit Stärke durchführt, und dass er insgesamt nach Schönheit und Eleganz strebt.

Die Freimaurerei hat ein mehrfaches Angebot, das dem einzelnen Bruder dabei helfen kann, sich den aktuellen Fragen der Zeit zu stellen und seine Antworten auf diese zu finden.

Auf der Basis einer in der Loge eingeübten Kultur der Mitmenschlichkeit ist Freimaurerei Pflege von Freundschaft und Geselligkeit. Die Logen der Freimaurer sind Gemeinschaften, die „gute und redliche Männer, Männer von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugungen sie sonst vertreten mögen“ (Alte Pflichten von 1723) über alle weltanschaulich-religiösen, politischen, nationalen und sozialen Grenzen hinweg verbinden wollen. Die Logen und die Menschen in ihnen wollen sich miteinander und mit anderen Menschen und Menschengruppen vernetzen, denn nur durch eine solche Vernetzung von Mensch zu Mensch können in modernen komplexen Gesellschaften mit ihrer zunehmenden Tendenz zu diffuser Anonymität und Aggressivität übersichtliche und humane Lebenswelten geschaffen und erhalten werden.

Die Geselligkeit der Logen ist ebenso traditionsreich wie komplex: freundschaftliches Miteinander, Empathie und Takt, soziales Handeln, gemeinsames Erleben und Praktizieren von Kultur, Diskurse; durch all das sollten schon die Bürger und Brüder der Aufklärungszeit Tugend und Bildung einüben und – als Vorbild für die gesamte Menschheit – zu besseren Menschen werden.

In der Tradition von Humanismus und Aufklärung sind die Logen der Freimaurer ethisch orientierte Assoziationen, in denen gemeinsam laut nachgedacht werden kann, um Wege zu Lebenssinn und Motivation zu moralischem Handeln ausfindig zu machen. Freimaurer stimmen darin überein, dass sie Werten verpflichtet sind, die sie – im Sinne eines Orientierungsrahmens – mit alten humanistisch-aufklärerischen Begriffen wie Humanität, Brüderlichkeit, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit und Friedensliebe umschreiben. Freimaurer bemühen sich darum, für diese Werte zeitgemäße Ausdrucksformen zu erarbeiten und auf dieser Grundlage an gesellschaftlichen Diskursen und moralischer Praxis auch außerhalb der Loge teilzunehmen.

Die Logen der Freimaurer bieten einen auf Symbole und Rituale gegründeten spirituellen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erfahrungsraum, in dem die Ziele und Ideen des Freimaurerbundes im Bewusstsein und im Habitus der Brüder verankert werden. Das Ritual ist keineswegs die ganze Freimaurerei, doch es ist das, was Freimaurerei von anderen Bünden mit humanitärer Einstellung unterscheidbar macht.

Das Ritual lehrt durch Symbole und rituelle Handlungen und rundet so die soziale und diskursethische Praxis der Loge durch eine die Gesamtperson des Bruders erfassende und verändernde spirituelle Dimension ab. Initiationen, performatives Sprechen und Handeln sowie mimetisches Lernen sind hierbei die wesentlichen Elemente. Das Ritual lässt die Werte des Bundes, die Beziehungen der Brüder, die Chancen für die eigene innere Entwicklung sinnlich und emotional erfahren. Das Ritual öffnet das Bewusstsein des Maurers für ein Wahrnehmen bisher verborgen gebliebener Schichten der Persönlichkeit. Dadurch vermittelt es nicht nur Denkanstöße, sondern es wird auch zum Medium der Selbsterfahrung und der Selbstentwicklung.

Durch die Zusammenfassung der drei vorgenannten Elemente in einem aufeinander abgestimmten Gesamtkonzept wird Freimaurerei zu einer Lebenskunst der Praxis, die freundschaftliches Miteinander und ethisch-moralische Daseinsorientierung durch Symbole und Rituale in der Gemeinschaft der Loge sowohl rational erfassbar als auch emotional erlebbar macht.

Freimaurerische Lebenskunst zielt darauf hin, Beziehungen herzustellen und Umgangsstile zu entwickeln:

  • Stile des Umgangs mit sich selbst wie Selbstrespekt, verbunden mit Selbsterkenntnis und Selbstkritik;
  • Stile des Umgangs mit anderen Menschen wie Mitmenschlichkeit, tolerantes Verstehen ohne Unterwerfung und Symbiose;
  • Stile des Umgangs mit den Dingen der Welt wie Verantwortung übernehmen für Gesellschaft und Umwelt;
  • Stile des Umgangs mit Transzendenz, was im Grunde genommen meint, im Hinblick auf letzte Fragen Frieden zu finden.

Die Freimaurerei geht von einem für alle Brüder als verbindlich anerkannten festen Set allgemeiner normativer Grundsätze aus, die wir unter dem Oberbegriff der Humanität zusammenfassen. Somit gibt es einen engen gemeinsamen Moralkodex, den wir als essenziell und nicht zur Disposition stehend betrachten. Das Missverständnis jedoch, mit dem wir es scheinbar zu tun haben, liegt im Unterschied von Normenbegründung und dem Bestreben, bestimmten Normen Geltung zu verschaffen. Nicht gemeinsamer Glaube ist unser Prinzip, sondern Konsens hinsichtlich bestimmter Werturteile. Die gemeinsamen Normen sind es, die uns verbinden, die Wege, auf denen wir zu ihnen gelangen, können recht unterschiedlich sein. Wir sollten uns deshalb davor hüten, einen bestimmten „Weg zur Wahrheit“ als den einzig verbindlichen vorzuschreiben. Humanität setzt die Achtung vor der Überzeugung des anderen voraus.

Freimaurerei ist keine Religion und will auch nicht als solche betrachtet werden. Religionen liefern umfassende Weltinterpretationen, die ihrer Natur nach exklusiv sind und sich wechselseitig ausschließen ein grundsätzlicher Konflikt, der auch durch noch so intensive ökumenische Bestrebungen nicht aufgehoben werden kann. Die Idee der Freimaurerei hingegen ist weitgehend universalistischer Natur. Sie versucht gar nicht erst, eine umfassende Weltinterpretation zu entwickeln. Die Freimaurerei kann ihrem Wesen nach offener sein, gerade weil ihre Konzeption und ihr Begründungsanspruch enger gefasst sind.

Was Maurer verbindet, ist eben kein einheitliches umfassendes Weltbild, sondern eine gemeinsame anthropologische Grundlage, ein Bild vom Menschen, aus dem sich konkrete ethische Handlungsanweisungen ableiten lassen. In der philosophischen Einordnung ist allerdings auch die humanistische Anthropologie ein „belief-system“, welches keineswegs „natürlich“ ist und deshalb, wie oftmals angenommen, „objektive“ Gültigkeit beanspruchen könnte.

Auch die Maurerei muss ihre ursprünglich naturrechtlich begründeten Vorstellungen der Ernüchterung philosophischer Analyse aussetzen; sie verliert dadurch nicht ihren Wert. Im Gegenteil, gerade weil das Bekenntnis zur Freimaurerei ein Werturteil darstellt und nicht einen religiös begründeten metaphysischen Wahrheitsanspruch, sind wir in der Lage, über die Grenzen der Religionen und ideologischer Dogmen hinweg für die Sache einer humaneren Welt zu argumentieren.

Das maurerische Ritual ist dabei funktional gesehen die Visualisierung bestimmter Ideen und Normen kraft traditioneller Symbolik, in der die ethische Konzeption sichtbar gemacht und im Bewusstsein des Maurers lebendig gehalten werden soll. So bieten unsere rituellen Arbeiten Anregung, sowohl die individuelle Kontemplation zu fördern als auch die Gruppenidentität durch wechselseitige Versicherung der gemeinsamen Grundsätze zu stärken. Dies aber kann nur gelingen, wenn die Formen des Rituals auf der einen Seite bestimmt genug sind, um den symbolisierten normativen Gehalt erkennbar werden zu lassen, und auf der anderen Seite offen genug, um den einzelnen Maurer nicht in Konflikt mit dem Bezugssystem seines individuellen Weltbildes geraten zu lassen. Nur wenn wir diesen, sicher schwierigen und doch so ungleich wichtigen Zusammenhang ernst nehmen und nicht als einen festgefügten statischen Rahmen, sondern als eine aktuelle, stets neue Gestaltungsaufgabe verstehen, können wir erreichen, dass die Freimaurerei als ein aktuelles Projekt nicht nur in unseren Köpfen lebendig bleibt, sondern auch in nennenswertem Umfang in der Welt wieder an Bedeutung gewinnt. Entscheidend dabei ist, dass die Loge ein Milieu schafft, in dem der einzelne Freimaurer in brüderlicher Auseinandersetzung seine Ideen entwickeln kann.

Durch die Arbeit an sich selbst verinnerlicht der Bruder Freimaurer die universelle Ethik und die nicht trennende, sondern integrierende Denk- und Handlungsweise der Freimaurerei.

Durch die Beherrschung der königlichen Kunst setzt er sich mit den Problemen seiner Mitmenschen und seiner Mitwelt auseinander.

Durch die aus dieser Arbeit resultierenden Geisteshaltung kann der einzelne Freimaurer nicht nur zu sich selbst finden, sondern kann auch Ideen für eine bessere Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln.

Nicht die Freimaurerei, sondern die einzelnen Freimaurer sind dazu bestimmt, einzeln oder gemeinsam mögliche Antworten auf die offenen Fragen unserer Zeit zu finden oder ihren Beitrag zur Schaffung eines ethischen und geistigen Fundaments für die Zukunft zu leisten.

Br... Helmut Reinalter sieht für die FMei der Zukunft unter anderen folgenden Aufgaben:

  • Die Entwicklung eines geistigen Habitus[1], deren Ausprägung sich im Diskurs der Brüder gestaltet (Diskursethik)
  • Eine neue ethische Orientierung am dynamischen Wandlungsprozess der Gesellschaft
  • Die Entwicklung einer zeitgemäßen Definition des Symbols des GBAW
  • Aktive Toleranz, welche über Duldung hinaus zur Akzeptanz führt
  • Eine verstärkte Verpflichtung zur praktischen Humanität, FMei muss im Profanen konkret wirksam werden.
  • Ein neues Aufklärungs- und Vernunftdenken
  • Ein stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement
  • Eine zeitgemäße Klärung der Frauenfrage
  • Eine verstärkte Auseinandersetzung mit den geistigen und gesellschaftlichen Strömungen der Gegenwart
  • Die Entwicklung einer aufklärerisch ideologiekritischen Haltung

Freimaurerei ist dann modern und hat Zukunft, wenn sie zeitgemäß gelebt wird, also nicht alte Antworten auf neue Fragen gibt. Ein wesentlicher Gedanke muss sein, dass die Königliche Kunst nur in der Spannung auf den Sinn der Zeit denkbar ist, der nicht nur in der Gegenwart, sondern vor allem in der Zukunft liegt. Dank ihrer toleranten, humanen und kosmopolitischen Grundlage kann sie unserem Leben und dem Leben kommender Generationen Sinn geben. Damit ist und bleibt die Freimaurerei eine moderne Idee.


[1] Bourdieu versteht unter Habitus die inkorporierte Position, die ein Mensch im sozialen Gefüge einnimmt. Er besteht aus der Gesamtheit von Haltungen, Dispositionen, Gewohnheiten und Einstellungen eines Individuums gegenüber der Welt

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