Die FM-ei ist, wie die Aufklärer, davon überzeugt, dass der einzelne Mensch aus reiner Vernunft im Stande ist, nicht nur sich selbst zu verbessern, sondern auch dem Sittengesetz zu gehorchen. Kant hat die reine Vernunft als oberste Instanz des Handelns des Menschen postuliert. Schon Schopenhauer und Nietzsche zweifelten an der reinen Vernunft als der Instanz, die Motor eines moralisch, sittlichen Handelns sein sollte. Für Nietzsche war Vernunft alter Wein in neuen Schläuchen. Was vormals im Namen Gottes als Menschenpflicht auftrat, findet sich in säkularisierter Verkleidung unter dem Deckmantel der Vernunft wieder: natur- und leibfeindliche Imperative. Für Horkheimer und Adorno ist in der Tradition Nietzsches die Vernunft formalisiert; das Mittel wird fetischiert, es absorbiert die Lust.[1]
Und tatsächlich geht dieses Konzept der reinen Vernunft oft genug nicht auf. Manchem Menschen mag es zu blutleer erscheinen. Es braucht genauso das Gefühl, die Hoffnung, den Luxus des Überflusses, die Grenzüberschreitung (Transgression). Erst Freud hat uns darauf hingewiesen, dass diese Grenzüberschreitungen ein Ausdruck innerer Freiheit sind, dass wir uns nur dann als Individuen entdecken können, wenn wir uns den Regeln und Idealen des Kollektivs gegenüber schuldig machen.[2]
Die FM-ei hat um dieses Dilemma wohl schon immer instinktiv gewusst. Denn so sehr sich die Brr... der Aufklärung verpflichtet fühlen, die Arbeit mit Ritual und Symbol spricht beide Seiten im Menschen an. FM-ei war und ist immer beides, Emotio und Ratio, Gefühl und Intellekt, Hermetik und Aufklärung, wohl immer in verschiedenen Mischungsgraden; aber die eine ohne die andere Seite zerstört die FM-ei. Schließlich gibt es auch die eine FM-ei nicht – abgesehen von der Organisation Großloge und Loge – sondern so viele Freimaurereien als es Brr... gibt, die FM-ei leben und erleben. Das Recht von sieben Brr... MM, sich gemeinsam zu einer L zusammenzuschließen, ist der beste Schutz vor einseitiger Entwicklung in welche Richtung auch immer. Damit erfinden die Brüder ihre FM-ei in der L gemeinsam immer wieder neu, mit jedem neuen Br... ändert sich der Charakter und die Ausrichtung der L ein wenig. Damit bleibt die FM-ei, die L, stets lebendig.
[1] Grün Klaus-Jürgen, Philosophie der Freimaurerei, eine interkulturelle Perspektive, Interkulturelle Bibliothek, Verlag Traugott Bautz, 2006
[2] Blom Philipp, gefangen im Panoptikum, Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart, Residenz Verlag 2017