Wir sollten daher im Namen der Toleranz
das Recht in Anspruch nehmen,
die Unduldsamen nicht zu dulden.
Karl Popper
Prägen sie sich immerhin ein,
dass Toleranz zum Verbrechen wird,
wenn sie dem Bösen gilt.
Thomas Mann
Aktuell leben wir einer Zeit, in der der Dialog verstummt zu sein scheint und halbe Wahrheiten ganze Erfolge feiern. Auf der richtigen Seite zu stehen und empört zu sein, ist wichtiger als unterschiedliche Standpunkte unvoreingenommen abzuwägen. Im Zeitalter des Empörialismus[1] scheint eine rationale Debatte kaum noch möglich. Plakative Polarisierung dominiert in der öffentlichen Diskussion: Rettung des christlichen Abendlandes gegen Islamisierung Europas, gläserner Mensch oder steigende Terrorgefahr, militärische Absicherung der Grenzen oder Ertrinken im Flüchtlingstsunami. Als Alternativ-Radikalismus[2] hat bereits Hans Albert diese Art von Denken bezeichnet.
Was in dieser so scheinbar verfahrenen Situation geboten scheint, ist ohne Zweifel ein Mehr an Toleranz; denn wer es nicht ertragen kann, dass andere Menschen andere Auffassungen als die eigenen vertreten, wird sich in einer offenen Gesellschaft eben nicht zurechtfinden können. Andererseits sind die plakativen Aufrufe zu mehr Toleranz und Respekt, wie sie von Menschen des öffentlichen Lebens nach jeder neuen Hiobsbotschaft vorgebracht werden, auch keine Lösung. Denn vieles, was aktuell in der Welt geschieht, was Menschen denken und wie Menschen handeln, hat keinen Respekt verdient. Manches bedroht unsere offene Gesellschaft sogar so sehr, dass sich auch jede Form der Nachgiebigkeit verbietet.
Der postmoderne Imperativ der „political correctness“, wie er sich in Aussagen wie „Ich bin ok, du bist ok! Lass dem anderen seine Meinung! Hör auf zu bewerten!“ äußert, tritt zwar gerne als Aufruf zur Toleranz auf, ist in Wahrheit jedoch nur ein Aufruf zur Ignoranz. Damit pervertiert die „political correctness“ das Ideal der Toleranz, wie es die Aufklärung entwickelt hat. Es hat den Anschein, als ob viele Menschen unter dem Deckmantel der Toleranz nicht mehr im Stande wären, zwischen Recht und Unrecht, Humanem und Inhumanen, Vernünftigem und Wider- bzw. Irrsinnigem zu unterscheiden. Ich neige dazu, hier von einem Übermaß an Ignoranz[3] zu sprechen. Durch seine Weigerung, Unterscheidungen anhand rationaler Prinzipien vorzunehmen, ist der Ignorante überhaupt nicht in der Lage zu erkennen, was zu tolerieren ist, was nicht toleriert werden darf und was akzeptiert werden sollte. Ignoranz unterläuft damit jede sinnvolle Strategie, das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden und die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.
Der Begriff Toleranz leitet sich vom lateinischen Zeitwort „tolerare“ ab, das mit ertragen, durchstehen, aushalten oder erdulden übersetzen lässt. Toleranz ist also die Fähigkeit zum Erdulden einer Last. Politisch verwendet, meint Toleranz störende und verstörende Formen des Andersseins ertragen zu können.
Der Begriff „Tolerantia“ taucht erstmals bei Cicero im Jahr 46 vuZ auf. Mit Tolerantia beschreibt Cicero die stoische Tugend, die Härten des Lebens – Schmerzen, Unglück, Ungerechtigkeit – würdevoll zu ertragen. Damit beschreibt Toleranz zunächst das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst, seine subjektive Fähigkeit, Leid aushalten zu können.
In dem Maß als die Lehre der Stoia, wie sie Cicero und Seneca formulieren, Eingang in das theologische Denken des Frühchristentums findet, findet sich die Tolerantia in den Schriften frühchristlicher Autoren. Dort beschreibt sie eine Tugend, welche die Christen in besonderem Maß auszeichnen soll, wenn sie Schmerz und Verfolgung ertragen. Gleichzeitig beschreibt der Begriff auch die Haltung der Christen gegenüber den Ungläubigen, die noch nicht zur einzigen, alleinseligmachenden Kirche gefunden haben. Diese sollten im Hinblick auf die baldige Parusie geduldet – toleriert – werden.
Mit Luther wird der Begriff Tolerantia erstmals eingedeutscht. Auch wenn Luther selbst in der Geschichte der Toleranz eine ambivalente Rolle spielt, so wird durch sein Hinterfragen der Wahrheits- und Geltungsansprüche der römischen Kirche dem Begriff Toleranz eine politische Dimension verliehen. Die Spannungen zwischen der römischen Kirche und den Kirchen der Reformation führen sehr bald zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die, unterbrochen durch den Augsburger Religionsfrieden, im 30-jährigen Krieg gipfeln. Nach dessen Ende etabliert sich so etwas wie eine Duldung der verschiedenen Konfessionen.
In der Aufklärung wird der Begriff der Toleranz von Philosophen wie John Locke, Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza, John Locke, Pierre Bayle, Voltaire und Jean Jacques Rousseau genauso wie Lessing und Kant, aber auch von Politikern wie Thomas Paine und Thomas Jefferson weiterentwickelt. Schließlich findet der Toleranzbegriff Eingang in wichtige politische Dokumente jener Zeit, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.
Interessanterweise nimmt Locke in seinem Plädoyer für Toleranz – Letters Concerning Toleration – Katholiken und Atheisten von der Toleranz aus; ähnlich auch Voltaire in seinem Traité sur la Tolérance, in dem er Jesuiten und Atheisten von der Toleranz ausnimmt, denn Locke genauso wie Voltaire fürchten eine Machtübernahme der katholischen Kirche und Toleranz gegenüber dem Atheismus führe zur Unmoral. Pierre Bayle (1647 – 1706) dagegen fordert in seinem Werk Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ „Contrains-les d’entrer“ (Philosophischer Kommentar zu den Worten Christi „Nötige sie hereinzukommen“, 1687) Gewissensfreiheit auch für Andersgläubige und Atheisten und zwar nicht nur als moralisches Prinzip, sondern als ein Gebot der Vernunft.
Im 19. und 20. Jahrhundert beschränkt sich Toleranz nicht mehr ausschließlich auf religiöse und konfessionelle Fragen; es kommt zu einer Erweiterung des Toleranzbegriffs. Ab nun geht es um die Frage, welche Formen der „Andersartigkeit“ auf anderen Gebieten z.B. Sexualität toleriert werden und welche nicht; ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen sondern weiter im Gange ist.[4]
Heute am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die positive Verwendung des Begriffs Toleranz einen Höhepunkt erreicht; Toleranz scheint ein Wert an sich zu sein, eine in jeder Hinsicht begrüßenswerte Tugend. Gleichzeitig wird damit dieser Begriff weit, unbestimmbar und unverbindlich. Toleranz ist so – ohne Anspruch auf Vollständigkeit[5] –
- Eine joviale, elterliche Geste gegen Menschen und Meinungen, die zwar nicht von uns nicht geachtet aber auch nicht als gefährlich angesehen werden.
- Eine soziale Verfallserscheinung aus Nachgiebigkeit, Gleichgültigkeit und Urteilsschwäche.
- Ein Aushalten von Unterschieden, das auf Selbstvertrauen und Charakterstärke beruht.
- Ein Gebot der Nächstenliebe.
- Eine minimale und schwache Form der Anerkennung, die bestenfalls eine Koexistenz hervorbringt.
- Ein Ausdruck wechselseitigen Respekts unter Menschen, die sich trotz aller Unterschiede in wesentlichen Punkten als Gleiche achten.
- Ein Zeichen von Solidarität für den Fremden und der Wertschätzung einer Pluralität von Lebensformen und Werten.
- Eine Notwendigkeit angesichts der Tatsache, dass Überzeugungen nicht erzwingbar sind und die Freiheit des Gewissens folglich nicht einschränkbar ist.
Insgesamt jedoch wird Toleranz als Zeichen des gesellschaftlichen Fortschritts interpretiert.
Seit 09/11 steht jedoch in der öffentlichen Diskussion die Frage im Raum, ob denn eine tolerante, eine offene Gesellschaft genug Widerstandskraft aufbringen könnte, um sich gegen Angreifer, die es gerade auf das Wesen dieser offenen Gesellschaft abgesehen hätten, verteidigen zu können. Die offene Gesellschaft hätte eine offene Flanke, über welche sie ihren Feinden viel zu viele Angriffsflächen böte, um diese Freiheit zu untergraben.[6]
Schon Karl Popper (1902 – 1994) hat 1945 diese Frage vor dem Hintergrund des Faschismus aufgeworfen. In seinem berühmten Buch, die offene Gesellschaft und ihre Feinde, beschreibt er das Paradoxon der Toleranz, welches für Popper darin besteht, dass uneingeschränkte Toleranz … mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz führt. Um die offene Gesellschaft zu schützen, ruft Popper dazu auf, im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch [zu] nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden.[7]
In den letzten Jahren wird die Frage nach den Grenzen der Toleranz immer lauter; und es sind durchaus nicht die üblichen Verdächtigen, denen man gern intolerantes und rückwärtsgewandtes Denken unterstellt, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Viele treibt die ehrliche Sorge um die Wahrung der Prinzipien der offenen Gesellschaft, die nach Popper Toleranz nur dauerhaft ermöglichen kann, wenn Intoleranz nicht toleriert wird.
Um die Fragen, was muss toleriert werden, was darf nicht mehr toleriert werden, zu beantworten, erscheint es mir zweckmäßig, kurz philosophische, theologische und politische Definitionen auszublenden und den nüchtern, sachlichen Sprachgebrauch der Technik heranzuziehen. Ingenieure definieren Toleranz als Abweichung vom Nennmaß. Das heißt, Toleranz bedeutet jenen Freiheitsspielraum, innerhalb dessen eine Abweichung vom Normalzustand unproblematisch ist, also keine Gegenregulation erforderlich macht.
Übertragen auf die aktuelle politisch-weltanschauliche Debatte bedeutet das, dass wir die Grenzwerte definieren müssen, die nicht überschritten werden dürfen, um die Funktionalität des Gesamtsystems nicht zu gefährden. Damit sind die Grenzwerte natürlich abhängig von dem System, welches geschützt werden soll; was damit auch erklärt, warum die Grenzen der Toleranz im Verlauf der Geschichte so unterschiedlich gezogen werden. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass je größer der Freiheitsspielraum ist, desto offener die Gesellschaft.
Eine offene Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihren Mitgliedern nicht nur einen größeren Toleranzraum gewährt, sondern ihren Mitgliedern auch ein größeres Maß an Toleranz abverlangt. Ob eine bestimmte Denkhaltung den eigenen Überzeugungen entspricht oder nicht, darf in einer offenen Gesellschaft nicht Richtschnur für ihre Duldung sein. Im Gegenteil, weil eine Einstellung der meinen nicht entspricht, muss sie toleriert, also ertragen werden. In einer offenen Gesellschaft ist es für die Frage der Toleranz völlig unerheblich, ob bestimmte Handlungen als unsittlich, unmoralisch, oder irrational gelten. Entscheidend ist, ob sie geschützte Rechtsgüter, insbesondere individuelle Selbstbestimmungsrechte, verletzen oder nicht. Der Staat ist eben kein Moralwächter oder ethischer Zuchtmeister, dessen Aufgabe es ist, für Zucht und Ordnung zu sorgen; Aufgabe des Staates ist es, die Einhaltung der für das Zusammenlaben erforderlichen Spielregeln sicher zu stellen.
Die Rechte des einzelnen Menschen dürfen nur dann eingeschränkt werden, wenn die Rechte anderer verletzt werden; das ist das Prinzip des Liberalismus. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Prinzips ist der gleiche Zugang zum Recht für alle Menschen ohne Diskriminierung durch Geschlecht, Alter, Herkunft, Weltanschauung etc., das Prinzip des Egalitarismus. Diese beiden Prinzipien sind für die offene Gesellschaft konstitutiv. Auch wenn es also schwer fällt, die Feinde der offenen Gesellschaft als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anzuerkennen, liegt genau darin die Toleranz, die Last, die es zu ertragen gilt.
Zum Eigenschutz hat die Gesellschaft Rechtssysteme entwickelt, die regeln, welche Verhaltensweisen geduldet werden können und welche nicht. Allerdings ist diese Unterscheidung in Tolerierbares und Nicht-Tolerierbares unzulässig verengt, weshalb wir die Grenzen der Toleranz oft nur unvollständig wahrnehmen.
In Wirklichkeit gibt es nämlich nicht nur eine sondern zwei Grenzen der Toleranz. Die eine Grenze verläuft eben zwischen dem, was toleriert werden muss und dem, was nicht mehr toleriert werden darf. Die zweite Grenze unterscheidet zwischen dem, was toleriert werden muss und dem, was akzeptiert werden kann, zwischen Toleranz und Akzeptanz. Akzeptieren bedeutet Gutheißen, das heißt man duldet nicht bloß, sondern ist einverstanden. Es ist keine Last, die man ertragen müsste; man erweist ihm Respekt, was gegenüber dem bloß Tolerierten nur um den Preis der Selbstverleumdung möglich wäre. Toleranz kann also auch ambivalent sein. Geht sie zu weit, wenn auch das Nicht-Tolerierbare geduldet wird, wird sie zur Ignoranz. Manchmal reicht sie nicht aus, wenn etwas bloß geduldet wird, was eigentlich akzeptiert werden sollte. Goethe schreibt in Maximen und Reflexionen: Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.[8]
Umgekehrt ist Beleidigung durchaus auch der Preis der Toleranz; dulden müssen bedeutet ausdrücklich kein Kritikverbot. Wir müssen damit leben, dass unsere Auffassungen von anderen nicht akzeptiert werden, sondern als inhuman, gottlos oder irrational verworfen werden. Wer nicht in der Lage ist, diese Last zu ertragen, beweist, dass ihm das für die offene Gesellschaft erforderliche Maß an Toleranz fehlt. Respekt für Gefühle (insbesondere religiöse) darf kein Argument gegen Kritik sein. Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.[9] Was jedoch immer geboten ist, ist Respekt vor jedem einzelnen Menschen; das gebietet die Menschenwürde. Die Pflicht zum Respekt vor dem Menschen bedeutet jedoch keineswegs, dass Überzeugungen und Handlungen eines jeden Menschen respektiert werden müssten. Falscher Respekt ist es in meinen Augen, die aus meiner Sicht falsche Meinung eines anderen nicht zu kritisieren, also ihn wie ein kleines Kind zu behandeln, dem man gewisse Dinge – eben sachliche Kritik – vorenthält.
Diese Grundhaltung hat der Philosoph Carlos Strenger (geb. 1958) als zivilisierte Verachtung bezeichnet. Damit stellt er das aufklärerische Toleranzprinzip wieder vom Kopf auf die Füße. Er definiert zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder sogar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten. Zivilisiert ist diese Verachtung unter zwei Bedingungen: Sie muss auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissenstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren; dies ist das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung. Zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen die Menschen, die sie vertreten. Deren Würde und grundlegenden Rechte müssen stets gewahrt bleiben und dürfen ihnen unter keinen Umständen abgesprochen werden. Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Dies ist das Prinzip der Menschlichkeit. Von der Geisteshaltung der Inquisition oder der iranischen Ayatollahs unterscheidet sich die zivilisierte Verachtung also insofern fundamental, als niemand aufgrund seines Glaubens, seiner Werte oder einer Meinungsäußerung zu Freiheitsentzug, Folter oder gar zum Tode verurteilt werden darf. Der Begriff bezeichnet vielmehr die Fähigkeit, Zivilisationsnormen auch gegenüber jenen aufrechtzuerhalten, deren Glaubens- und Wertsysteme man nicht akzeptiert.
…Sie [die zivilisierte Verachtung] verlangt nicht, dass Respekt geheuchelt wird, wo keiner wirklich zu haben ist. Sie fordert niemanden auf, unmoralische Denkformen, unmenschliche Praktiken, irrationale Überzeugungen oder unzivilisiertes Verhalten zu akzeptieren, nur weil eine andere Kultur oder Religion sie vorschreibt. Auf der Ebene kultureller Diskurse und der Kunst erlaubt sie es, sorgfältig begründeter Verachtung unverhohlen Ausdruck zu verleihen, solange weder zur Gewalt noch zur Erniedrigung anderer aufgerufen wird… Politisch führt das Prinzip der zivilisierten Verachtung dazu, dass die Grundwerte der westlichen Kultur effektiv verteidigt werden können, wesentlich effektiver jedenfalls als durch die Maxime der politischen Korrektheit.[10]
Zivilisierte Verachtung ist eine zivilisatorische Fähigkeit, die nur unter Anstrengung zu erwerben ist und die, genauso wie körperliche Fitness, ständig des Trainings bedarf. Nur zu leicht können sich hinter Verachtung Fremdenhass, Ignoranz und der Wille verstecken, zu allem eine Meinung zu haben, ob diese nun auf Wissen gründet oder nur auf Vorurteilen und dem Wunsch, andere zu verachten.[11]
Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht; wer für nichts mehr offen ist, ist dogmatisch erstarrt.[12] Die Menschen, die in einer offenen Gesellschaft leben, müssen sich vor beidem schützen. Sie müssen die Kunst beherrschen, sich weiter zu entwickeln, ohne ihren Wesenskern zu verlieren, offen für Veränderungen bleiben, ohne ihre Prinzipien zu verraten, größtmögliche Freiheit gewähren, ohne jenen Kräften Tür und Tor zu öffnen, die darauf hinarbeiten, die Fundamente der Freiheit zu zerstören. Popper definiert geschlossene und offene Gesellschaft in seinem Werk die offene Gesellschaft und ihre Feinde mit wenigen Worten: als geschlossene Gesellschaft bezeichnet Popper die magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft, als offene Gesellschaft eine Gesellschaftsordnung, in der sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen.[13]
Popper zeigt am Beispiel der politischen Ereignisse rund um den Peloponnesischen Krieg, der vor 2500 Jahren im antiken Griechenland stattfand, auf, welche Elemente das totalitäre Denken bis heute charakterisieren und erklärt, warum Menschen für solche Denkmuster immer wieder anfällig sind. Die Menschen brauchen dringend Hilfe […], sie leiden unter […] einem Gefühl des Dahintreibens. Es gibt keine Gewissheit, keine Sicherheit im Leben, wenn alles sich im Fluss befindet.[14]
Für Popper ist die rigide Orientierung an kollektivistischen Traditionen der Vergangenheit eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen, die auf eine Auflösung der engen Bindung an den Stamm, die „organische Gemeinschaft“ hinauslaufen. Das heißt, wenn Gesellschaften von geschlossenen zu offenen Formen übergehen, wenn Individualität und Pluralität an die Stelle einheitlicher, kollektivistischer Traditionen treten, ist damit zu rechnen, dass dies bei einigen Gesellschaftsmitgliedern starke Unsicherheit erzeugt und den Wunsch auslöst, die „gute, alte Ordnung“ wiederherzustellen. Obgleich die >patriotische Bewegung< [der Wunsch nach der guten alten Ordnung] teilweise der Ausdruck des Verlangens war [ist], zu stabileren Lebensformen zurückzukehren, war [ist] sie doch moralisch angefault. Ihr alter Glaube war [ist] verloren; er wurde [wird] größtenteils durch eine heuchlerische und sogar zynische Ausbeutung religiöser Gefühle ersetzt.[15] Popper versteht also Totalitarismus als Flucht vor der Freiheit. Für ihn entsteht totalitäres Denken aus der Unfähigkeit, die Befreiung des Individuums aus den Ketten der Konvention als Chance anstatt als Bedrohung zu begreifen.
Für Popper ist ein funktionierender Rechtsstaat Grundvoraussetzung einer offenen Gesellschaft. Denn nur in einem Rechtsstaat, der den Menschen Freiheit lässt und ihnen zugleich Sicherheit gibt (wenn es sein muss mit Richtern, mit Polizei und mit Militär), von ihrer Freiheit auch Gebrauch zu machen, kann sich die offene Gesellschaft entfalten. Gewaltenteilung, Gesetzesbindung, freie Wahlen und freie Meinungsäußerung sind zweifellos wesentliche Voraussetzungen für offene Gesellschaften, sie sind jedoch keine hinreichende Bedingung. Die bloße Existenz von freiheitlich-demokratischen Elementen reicht nicht aus, um eine offene Gesellschaft zu gewährleisten. Entscheidend ist, ob die Bürgerinnen und Bürger die Prinzipien der offenen Gesellschaft verinnerlicht haben. Für Popper gibt es drei fundamentale Prinzipien, die für eine offene Gesellschaft charakteristisch sind, das Prinzip des Liberalismus (Orientierung am Ideal der Freiheit), das Prinzip des Egalitarismus (Orientierung am Ideal der Gleichheit), das Prinzip des Individualismus (Orientierung am Individuum statt am Kollektiv). Dazu kommt – auch wenn von Popper nicht ausdrücklich erwähnt – das Prinzip des Säkularismus (Orientierung an weltlich, rationalen Formen der Normenbegründung statt an religiösen Dogmen). Die offene Gesellschaft zu verteidigen, heißt daher, die Prinzipien des Liberalismus, Egalitarismus, Individualismus und Säkularismus zu stärken bzw. den Einfluss von Paternalismus, Elitarismus, Kollektivismus und Fundamentalismus zu schwächen.
Unsere Verwaltung begünstigt die vielen und nicht die wenigen; daher wird sie Demokratie genannt. Die Gesetze gewähren allen in gleicher Weise Gerechtigkeit […]. Wenn ein Bürger sich hervortut, dann wird er vor anderen gerufen werden, um dem Staat zu dienen, nicht aufgrund eines Privilegs, sondern als Belohnung für ein Verdienst; und seine Armut ist kein Hindernis. Die Freiheit, der wir uns erfreuen, erstreckt sich auch auf das gewöhnliche Leben; wir verdächtigen einander nicht, und wir nörgeln nicht am Nachbarn herum, wenn er es vorzieht, seinen eigenen Weg zu gehen. […] Aber diese Freiheit macht uns nicht gesetzlos. Wir werden gelehrt, die Behörden und die Gesetze zu achten […]. Und wir werden auch gelehrt, die ungeschriebenen Gesetze zu befolgen, deren Gültigkeit nur in dem allgemeinen Gefühl für das liegt, was recht ist […].[16]
Ohne Zweifel ist unsere offene Gesellschaft, die wir geneigt sind als selbstverständlich zu nehmen, in Gefahr. Sie zu verteidigen, heißt sich konsequent an den Prinzipien der Rationalität, der Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität orientieren. An Hand dieser Prinzipien lassen sich problemlos die Grenzen der Toleranz, zu der wir uns verpflichtet haben, bestimmen, nämlich zu unterscheiden, was akzeptiert, was bloß toleriert und was nicht mehr toleriert werden kann. Hilfreich dazu sind drei allgemeine Imperative
Verhindere, was nicht zu tolerieren ist!
Schwäche, was nur zu tolerieren ist!
Stärke, was zu akzeptieren ist!
Der Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft muss mit allen Waffen und in aller Härte geführt werden. Er muss mit den Waffen des Arguments geführt werden, damit die offene Gesellschaft als Vorbild strahlen kann. Das ist nicht naiv. Daran hängt alles, auch unser Wohlstand, der Ausfluss unserer Freiheitsentscheidungen ist. Es geht um die Verteidigung einer […] Gesellschaft, in der […] die Freiheit einen hohen Wert hat; in der wir verantwortlich denken und handeln können […].[17] Die wehrhafte Demokratie einer offenen Gesellschaft verteidigt ihren freiheitlichen Lebensstil gegen alle Feinde. Und sie ist, wenn sie ihrer fundamentalen, verfassungsmäßig garantierten Offenheit treu bleibt, auch weder vom Terror religiöser Hassprediger noch von jenen Rechtspopulisten zu besiegen, die sie als endlos diskutierende „Quatschbude“ diffamieren.[18]
Dringender denn je brauchen wir ebenso vernunfterprobte wie mutige Bürgerinnen und Bürger, die sich weder vom radikalen Islamismus oder von Putins aggressiver Expansionspolitik noch von internen Problembewirtschaftern und Moralwächtern einschüchtern lassen. Sie sind bereit, für ihre Ideale einzustehen, Probleme unerschrocken zu benennen, sich zu exponieren und ihre Position argumentativ selbstbewusst zu verteidigen.[19]
Mitglieder einer offenen Gesellschaft sollten daher ihre Werte nicht schamhaft verhüllen (wie es die italienischen Behörden im Fall von antiken Statuen beim Besuch des iranischen Präsidenten getan haben), sondern sich selbstbewusst zu ihnen bekennen. Denn Rationalität, Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität sind keine Prinzipien, derer man sich schämen müsste. Sie sind bedeutendste Früchte unserer Kultur und Ergebnisse des zivilisatorischen Fortschritts der Menschheit. Die Idee, dass Menschen frei sein sollen, ihr Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu leben; dass es keinen Glaubenssatz, keine Religion, keine Doktrin und keine Institution gibt, die nicht kritisiert werden darf; und dass es die Offenheit zur Kritik ist, die der wissenschaftlichen Revolution und dem Fortschritt des menschlichen Wissens zugrunde liegt: Diese Ideen sind die großen Errungenschaften des Westens.[20]
Als Mitglieder einer offenen Gesellschaft haben wir das Recht, stolz auf diese Errungenschaften und Ergebnisse zu sein. Gleichzeitig haben wir nicht nur das Recht sondern auch die Pflicht, zivilisierte Verachtung gegen unsere Gegner zur Anwendung zu bringen; Gegner, die durchaus mit uns in dieser offenen Gesellschaft leben und von deren Vorteilen profitieren. Diese an die Grenzen ihrer Toleranz zu bringen, scheint mir eine lohnende Aufgabe für uns Brr... FM.
Literatur
Kissler Alexander, keine Toleranz den Intoleranten, Gütersloher Verlagshaus, 4. Auflage 2016
Schmidt-Salomon Michael, die Grenzen der Toleranz, Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Strenger Carlos, zivilisierte Verachtung, eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, edition suhrkamp, 5. Auflage 2016
[1] Schmidt-Salomon M., die Grenzen der Toleranz, Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
[2] Albert H., Traktat über die kritische Vernunft, Tübingen 1991
[3] Schmidt-Salomon M., die Grenzen der Toleranz, Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
[4] erst 2002 wurde in Österreich der „Homosexuellen-Paragraf“, § 209 StGB abgeschafft
[5] nach Rainer Forst, Professor für Philosophie, Goethe-Universität, FfM
[6] Fest J., Die schwierige Freiheit, über die offene Flanke der offenen Gesellschaft. Siedler, Berlin, 1993
[7] Popper K., die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: der Zauber Platons
[8] Goethe J. W. v., Maximen und Reflexionen
[9] Strenger C., zivilisierte Verachtung, eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, edition suhrkamp, 5. Auflage 2016
[10] Strenger C., zivilisierte Verachtung, eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, edition suhrkamp, 5. Auflage 2016
[11] Stenger C., Feuilleton der NZZ, 20.02.2016
http://www.nzz.ch/feuilleton/das-diktat-der-falschen-toleranz-1.18698198, Zugriff 27.12.2016, 0930
[12] Schmidt-Salomon M., die Grenzen der Toleranz, Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
[13] Popper K., die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1, der Zauber Platons
[14] ibd.
[15] ibd
[16] Rede des Perikles, zitiert nach Popper K., in die offene Gesellschaft und ihre Feinde, der Zauber Platons
[17] Popper K., die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1, der Zauber Platons
[18] http://www.feinschwarz.net/feinde-der-offene-gesellschaft-i-rechtspopulismus-als-theologisches-problem/ Zugriff 27.12.2016, 0915
[19] Stenger C., Feuilleton der NZZ, 20.02.2016
http://www.nzz.ch/feuilleton/das-diktat-der-falschen-toleranz-1.18698198, Zugriff 27.12.2016, 0930
[20] ibd