Esoterik versucht die Wahrheit über Wesen und Schicksal von Mensch und Kosmos aus möglichst alten Quellen zu schöpfen; sie steht mit ihrer Methode des Wissensgewinns aus der Tradition in deutlichem Gegensatz zum Prinzip des Selbstdenkens. Mit Vernunft ist Fragen der Transzendenz nicht beizukommen, im Gegenteil der Mensch übersteigt sein Erkenntnisvermögen, wenn er mit Hilfe der Vernunft versucht Antworten mit Wahrheitsgehalt auf Fragen der Transzendenz zu geben. Der Esoteriker zieht nicht die Grenze des modernen Wissenschaftlers zwischen Rationalem und Irrationalen. Für den Esoteriker wird es gerade erst dann besonders interessant, wenn es um Fragen der Transzendenz, Gottes oder der Engel geht.
Esoterik scheint eine Denkform (Faivre Antoine, Que sais je? L’èsotèrisme 2. Auflage Paris 1993: nous appelons l’èsotèrisme en occident moderne une forme de pensée), oder ein Weltbild (Needleman Jacob) im Umfeld der Religionen zu sein. Auch wenn ihr Dogmen, geoffenbarte Bücher und eine Organisationsstruktur, wie sie die Hochreligionen besitzen, fehlt, so handelt es doch nicht um sogenannt primitive, archaische Glaubensformen, wie sie die Religionsanthropologie untersucht.
Der Begriff „Esoterik“ ist in unserer Alltagssprache negativ besetzt und wird oft und gerne mit dem fragwürdigen Esoterikmarkt oder zwielichtigen Sekten in Zusammenhang gebracht. Magie, Astrologie, Hermetik, Alchemie oder auch Kabbala und Theosophie werden gern unter dem Oberbegriff Esoterik zusammengefasst, Synonym ist oft auch Hermetik.
Esoterik ist ein bestimmendes Moment des westlichen Kulturraums der Neuzeit. In der Renaissance im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts fügen sich die drei traditionellen Wissenschaften zum Kernbestand des esoterischen Corpus der frühen Neuzeit zusammen. Die drei Hauptströmungen werden durch „Gründertexte“ ergänzt, das Corpus hermeticum, die jüdische Kabbala, die Philosophia perennis des Agostino Steuco (1540), die Naturphilosophie des Paracelsus, die Theosophie des Jacob Böhme, die Schriften der Rosenkreuzer. Mögen auch die einzelnen Teile erst nach und nach entstanden sein, so sind sie dennoch kohärent, weil ihnen allen ein gleiches Denkmuster zu Grunde liegt; dieses Denkmuster ist ausschlaggebend für die Qualifizierung eines Weltbildes, eines Textes als esoterisch. Diese vier wesentlichen Komponenten der Esoterik als Denkform sind die „Entsprechungen“, die „Vorstellung von der lebenden Natur“, die „Imagination“ und die „Erfahrung der Transmutation“. Allen vier Vorstellungen liegt die in der Renaissance intensiv rezipierte Vorstellung von der Emanation des Göttlichen in die Welt und der so entstehenden „Kette der Wesen“ zu Grunde.
Das Denken von den Entsprechungen findet seinen bekanntesten Ausdruck in der Makro-Mikrokosmoslehre, wie oben so unten. Die Vorstellung von der lebenden Natur betont den inneren Zusammenhang zwischen allem Geschaffenen. Die Natur ist von einem Licht oder Feuer beseelt und durchflossen. Das esoterische Erkenntnisprinzip ist die Imagination. Mit ihrer Hilfe kann die Natur entziffert werden und der Esoteriker erhält Gnosis im Sinne höheren Wissens; unsichtbares, zu dem das physische Auge keinen Zugang hat, kann sichtbar gemacht werden. Transmutation bedeutet die praktische Umsetzung esoterischer Erkenntnisse. Über den naturbezogenen Aspekt hinaus geht es um jede Art substantieller Metamorphose. Das Ziel ist die „zweite Geburt“, der Übergang eines Wesens aus einem niederen Zustand in einen höheren.
Im Canon der esoterischen Schriften kommt der Hermetik aus der Sicht der frühneuzeitlichen Rezeption als angeblich älteste Schrift eine herausgehobene Stellung zu. Marsilio Ficino gibt das griechische Manuskript des Corpus hermeticum 1471 erstmals in lateinischer Sprache heraus. Im Vorwort zu dieser Ausgabe schriebt Ficino den Stellenwert des Corpus hermeticum als die älteste vorchristliche Quelle der Theologie, der prisca theologia fest, der Autor ist Hermes Trismegistos. Er führt eine Traditionskette mit sechs Namen von Hermes Trismegistos, über Orpheus, Aglaophemus, Pythagoras, Philolaos bis Platon an. Mit dieser Kette beginnt die esoterische Traditionskette der Neuzeit, was schließlich in der philosophia perennis zusammengefasst wird.
Interessant ist, dass diese Art zu denken, sich bis ins 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung erhält und sogar noch erweitert wird, z.B. in den theosophischen Schriften eines Jakob Böhme. Für die Esoteriker genauso wie die Aufklärer des 18. Jahrhunderts ging es gleichermaßen darum, den Schlüssel zu höherem Wissen und zu höchster Machtentfaltung zu finden. Ob das neue Jerusalem aus der Vernunft hervorgehe oder aus einem alchemistischen Neuschöpfungsprozess, ob sich die Entwürfe dieser utopischen himmlischen Stadt in einer säkularisierten oder theosophischen Form präsentieren, das Ziel bleibt gleich, nämlich diese Stadt zu errichten.
Unter Aufklärung verstehen wir heute meist die paradigmatische Definition, wie sie Kant 1784 in „Beantwortung der Frage, was ist Aufklärung“ definiert hat: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Aufklärung bedeutet auch der „wissenschaftlichen Revolution“ Vorschub zu leisten. Dies geschah in besonders eindrucksvoller Weise – vor allem was wiederum die Demokratisierung des Wissens betrifft – in der Schaffung der Encyclopédie Française, an deren Entstehung Freimaurer maßgeblich beteiligt waren. Entsprechend den konditionierten gesellschaftlichen Reflexen der Epoche wird die Encyclopédie stellvertretend für Freimaurerei, Aufklärerei und sonstiges Ketzertum auf den Index gesetzt. Es ist demnach auch im Sinne des Freimaurers, durch Wissenschaft und gesellschaftlichen Wandel einen Menschentyp heranreifen zu lassen, der nicht den Kadinaluntugenden des Katholizismus anheimfällt. In der Sprache der Freimaurer des 18. Jahrhunderts hatten die Hindernisse, die das Licht des Wissens störten und blockierten, einen dreifachen Namen: Aberglaube, Irrtum, Unwissenheit (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bände, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1983).
Da mag es uns befremden, dass der Illuminat Freiherr von Knigge sich für die Rosenkreuzer, der Erzaufklärer und Theologe Johann Salomo Semler für hermetische Naturmystik, Lessing sich für den Alchemisten Johann Konrad Dippel (1673 – 1734) interessiert und Newton alchemistische Bücher nicht nur besitzt sondern auch eifrig studiert, um irgendwann einmal selbst ein solches Werk zu schreiben. In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht vergessen, dass Kant seine berühmte Definition des eigenständigen, unabhängigen Denkens am Ende der Epoche der Aufklärung steht und daher das Ergebnis der Entwicklung ist und nicht die Entwicklung selbst. Kants Verständnis des Denkens ist Grundlage des Denkens der Moderne und weniger des Denkens des 18. Jahrhunderts.
In der Aufklärung ist das hermetische Gedankengut gewisser Maßen einem Reinigungsprozess unterworfen. Die konkret gedachte Geisterwelt der Hermetik wird zu spirituellen Naturkräften umgedeutet. Vom hermetischen Grundansatz bleibt die Denkbarkeit eines Ineinander von Geist und Materie und der Glaube an die Polarität der Kräfte in der Natur.
Und wo bleibt das Geheimnis der Esoterik, wo das geheime Wissen? Da sind wir erst recht wieder im 18. Jahrhundert. Gerade das 18. Jahrhundert ist eine Zeit der Gründungen von Geheimbünden und arkanen Gesellschaften, eine davon ist die Freimaurerei. Sinn der Geheimhaltung ist der Schutz der Inhalte; der Geheimbund ist die Form, in der Neues wachsen kann. Das 18. Jahrhundert ist die Zeit, in der sich die Bürger vom Absolutismus ihres Herrschers emanzipieren, es ist die Zeit der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit. Das Gegensatzpaar Absolutismus – Bürgertum wird zur Ursache des esoterischen Zusammenschlusses. Die esoterischen Bünde sind eine wichtige Organisationsform auf Weg des Bürgertums zur führenden gesellschaftlichen Kraft.
Gibt es also einen Widerspruch zwischen Aufklärung und Esoterik? Das Analogieprinzip wird im Denken der Aufklärer nahezu ungebrochen tradiert. Das Konzept von der Kette der Wesen, der überquellenden Emanation des Göttlichen in die Welt ist Bestandteil des aufgeklärten Weltbilds. Genauso ist die Vorstellung von der lebenden Natur vorhanden; der Reinigungsprozess durch die Weltweisheit, die philosophische Abstraktion, tritt in den Vordergrund. Imagination, die mystische Erkenntniskraft tritt gegenüber der Vernunft gesteuerten Deduktion in den Hintergrund. Die Annahme einer visionären Wahrnehmungskraft konstituiert die Ritualpraxis der esoterischen Bünde. Das sinnliche Erleben der Initiation, die stufenweise Erkenntnis durch intuitive Erleuchtung ist gerade das, was die Geheimbünde zusätzlich zur vernünftigen Wissensvermittlung anbieten. Das Erlebnis der Transmutation steht nach wie vor im naturwissenschaftlichen wie utopischen Bezugsraum, und die Transmutation findet sich in den Ritualen der Geheimbünde wieder.
Damit brauchen wir uns in der Tat nicht zu wundern, wenn wir in unseren Ritualen neben streng rationalen Aspekten und Gedanken unvermittelt esoterisch – hermetische Elemente finden, denn die Freimaurerei ist genau in dieser Zeit in diesem Spannungsfeld entstanden. Der Großteil der existierenden Symbole der Freimaurer ist nicht originär aus ihrem Bund hervorgegangen, sondern hat tieferreichende Wurzeln. Eine wesentliche Quelle maurerischer Symbole liegt eben in der Tradition der Alchemie.
Freilich kann ein solcher Ansatz nicht restlos mit der grundsätzlich aufklärerischen Position vereint werden. Daher ist die Spannung dieser gegensätzlichen Aspekte in der Freimaurerei ubiquitär. Gleichzeitig ist bezüglich der Symbolauffassung die Problematik der hermetisch-holistischen Auffassung mitzudenken, dass auf (metaphysische) Ideen (Platonismus) rekurriert wird, die keiner restlosen Klärung zugeführt werden können. Somit fällt die Ausdeutung im esoterischen Bereich einer gewissen Willkür anheim. Aus dieser Zwienatur der Freimaurerei, Hermetik vs. Aufklärung, (Raoul Bertaux La Symbolique au Grade d’Apprenti, Editions Edimaf, Paris, 1986, Contraria sunt complementa … Niels Bohr re-decouvrait le principe de complémentarité, principe qui pourtant est à la base de tout enseignement initiatique) scheint eine neue Allianz zu erwachsen, die historisch gesehen geradezu vorprogrammiert erscheint. Man könnte die freimaurerische Position in der Gegenwart durchaus als postmodernen, nach-aufklärerischen Standpunkt bezeichnen. Was allerdings aus masonischer Sicht heute dringend erforderlich erscheint, ist die Konzipierung einer ‚neuen‘, ‚reflexiven‘ Aufklärung, die die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung kritisch weiterentwickelt (Helmut Reinalter, Die Freimaurer, C. H. Beck Verlag, München, 2001).
Quellen:
- Liebhart Karin, Die Symbolik der Freimaurer im Lichte der Aufklärung, Proseminar aus Politikwissenschaft, WS 2001/2002
- Monika Neugebauer-Wölk; Esoterik im 18. Jahrhundert – Aufklärung und Esoterik, eine Einleitung, http://www.izea.uni-halle.de/forschergruppe/materialien/aufsaetze/neugebauer_woelk_aufklaerung_und_esoterik.pdf; 27.2.2010, 11.20 Uhr