Pastor Andersons Worte gegen den einfältigen (stupid) Atheisten und den religiösen Freigeist (irreligious libertine) sind ohne Zweifel im Kontext seiner Zeit, der – englischen Aufklärung – zu lesen. Wie Lessing in seiner Ringparabel aufzeigt, kommt es nicht darauf an, welche Religion die einzig wahre und welcher der Götter der mächtigste oder der einzig gültige sei. Nicht mehr die Mutmaßungen über das Wesen Gottes und wie er gnädig zu stimmen sei, stehen im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern der Mensch und das Wissen vom Menschen. Das Dasein des Menschen wird zum Daseinsgrund der Religion. Das religiöse Bedürfnis erzeugt Religion, nicht umgekehrt. Damit wird die Existenz Gottes nicht ausgeschlossen oder geleugnet, es verschiebt sich ausschließlich die Richtung der Erkenntnisanstrengung; solange wir nicht einmal den Menschen verstanden haben, sollten wir nicht versuchen, Gott zu verstehen.
Immanuel Kant fasst diese Gedanken im Konzept der Denknotwendigkeit Gottes zusammen; er nennt es moralisches Gottesargument. Alle Menschen tragen ein sittliches, moralisches Bewusstsein in sich, haben ein Gewissen, fühlen sich einem Sittengesetz verpflichtet, Dazu muss es einen Urheber geben: Gott. Immanuel Kant (1724 – 1804) definiert natürliche Religion als Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Sie enthält kein Geheimnis und bildet daher, wie Kant hinzufügt, einen Bestandteil der Religion der meisten gesitteten Völker (Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft). Er kommentiert in seiner Kritik der Urteilskraft in einer Fußnote am Ende des Paragrafen 87, das von dem moralischen Beweis der Existenz Gottes handelt so: Dieses moralische Argument soll keinen objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben. Nicht dem Zweifelgläubigen beweisen, dass ein Gott sei; sondern dass, wenn er moralisch konsequent denken will, er die Annehmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse. Es soll auch nicht gesagt werden: es ist zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen; sondern: es ist durch sie notwendig. Mithin ist es ein subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument.
Nicht von ungefähr nennt Kant sein Werk „Kritik der Urteilskraft“, denn Kritik kennzeichnet die klare Unterscheidung zwischen dem, was wir erkennen können, und dem, was wir nicht erkennen können. Die Aufklärung gibt daher auf auf das Transzendente bezogene metaphysische Fragen konsequent diesseitsbezogene metaphysikkritische Antworten. Die Notwendigkeit an ein höchstes Wesen glauben zu müssen, bedeutet daher nicht zwangsläufig, an die Existenz eines solchen Wesens zu glauben. Was Gott ist, wie er ist, gehört im kritischen Denken zu den unerkennbaren Dingen, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass er mit all diesen Eigenschaften tatsächlich existiere.
Kant beweist die Denknotwendigkeit Gottes, nicht jedoch die notwendige Existenz eines Gottes. Gott müsse im Hinblick auf die moralischen Gebote gedacht werden, was aber nichts über seine tatsächliche Existenz aussagt. Die Denknotwendigkeit Gottes birgt kein größeres Wissen um die Wesenheit Gottes, sondern sagt ausschließlich etwas über die menschliche Natur aus.
Die Behauptung aufzustellen, zu wissen, was denn der Wille jener unvorstellbaren Wesenheit sei, ist einer jener Anmaßungen, die die Aufklärung abzustellen versucht. Es kann und darf keine religiöse Mindestanforderung an einen Freimaurer geben, auch nicht den Glauben an einen wie immer gearteten Gott. Folgen wir also konsequent Kants Konzept der Denknotwendigkeit Gottes, der Philosophie des „als ob“; so kann der GBAW Ausdruck eines sinngebenden Prinzips oder höheren Seins werden, das Verantwortung begründet.
Die FM behauptet, das allen Religionen Gemeinsame in Ethik, Moral und Sittlichkeit, die aber nicht als göttliche Offenbarung aufgefasst werden, und im Glauben an ein Numinoses (die schöpferische, unerforschliche Wesenheit), welches Freimaurer im Symbol des ABAW verehren, zu finden. Während die Religionen den Glauben als Voraussetzung der Sittlichkeit sehen, vertritt die FM die Ansicht, dass auch Sittlichkeit zur Religion führen kann.
Der Wert des Menschen wird in der Freimaurerei nicht nach seinem Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft und zu einem Dogma beurteilt, sondern nach seiner intellektuellen Redlichkeit (Helmut Reinalter, die Freimaurer, München 2000).